Hässliche neue Welt

Unsere Städte sind so hässlich wie nie zuvor, sagt Michael Diamant. Der Stockholmer legt sich mit dem Architektur-Establishment an und fordert eine Rückkehr zu klassischen Formen.

ALIAS: Herr Diamant, sie sind Mitgründer der Protestbewegung „Architectural Uprising, zu Deutsch: „architektonischer Aufstand“. Das klingt martialisch.
Michael Diamant: Wir sind im Kampfmodus.

ALIAS: Gegen wen kämpfen Sie?
Diamant: Es gibt zwei Gruppen: erstens, die etablierten modernistischen Architekten, die den Diskurs komplett dominieren und unsere Städte verschandeln. Ich sage bewusst „modernistisch“ und nicht „modern“. Zweitens, die Freunde dieser Architekten: Großstadt-Journalisten, die den kulturellen Tenor bestimmen. Weil wir ein kleines Land sind, ist diese unheilige Allianz zwischen Architektur-Establishment und Presse in Schweden besonders eng. Unsere kulturelle Elite konzentriert sich fast vollständig auf einen Bezirk von Stockholm – die Insel Södermalm. Jeder dritte schwedische Journalist lebt dort und der Anteil an Architekten ist ähnlich hoch. Man geht in dieselben Bars, lässt seine Kinder dieselben Kindergärten besuchen …

ALIAS: In Deutschland ist die Situation dezentralisierter, aber ähnlich. Eliten bleiben vermutlich überall gern unter sich. Doch welchen Nachteil sehen Sie darin, wenn die Kinder eines Architekten und eines Journalisten in denselben Kindergarten gehen?
Diamant: Wer befreundet ist, schützt sich gegenseitig. Natürlich wird also der Journalist seinen Architektenfreund, wenn dieser kritisiert wird, verteidigen. Und beiden wird ihre Verlogenheit dabei nicht einmal auffallen.

ALIAS: Verlogenheit?
Diamant: In Södermalm stehen sehr viele Altbauten, und es ist kein Zufall, dass es Architekten dorthin zieht. Die Mehrheit der schwedischen Architekten lebt in klassischen Häusern, und fast alle arbeiten auch in solchen Gebäuden. 24 Prozent wohnen in Häusern, die vor 1920 gebaut wurden – wobei nur 12 Prozent aller schwedischen Häuser überhaupt in diese Kategorie fallen. Das heißt: Architekten sind in solchen Gebäuden zu 100 Prozent überrepräsentiert. Trotzdem scheinen sie sich nicht die Frage zu stellen: „Warum entwerfen wir Gebäude, in denen wir selbst weder leben noch arbeiten möchten? “ Mit Verlaub, das ist verlogen.

Bildungsschieflage mal anders: Schule im französischen Villeneuve d’Ascq (Foto: Velvet)

ALIAS: Müsste man nicht eher die Auftraggeber kritisieren?
Diamant: Nein, denn die Architekten liefern die Ideologie. Es sind nicht die Bauträger oder Politiker und letztlich auch nicht die Journalisten. Die Architekten tragen die Verantwortung für die Hässlichkeit unserer urbanen Welt.

ALIAS: Warum sind so viele Architekten Anhänger des Modernismus? Ich vermute, man wird sich nicht Mitte des 20. Jahrhunderts getroffen und beschlossen haben: Wir machen jetzt den Planeten hässlich!
Diamant: Nach dem Ersten Weltkrieg fand die modernistische Ideologie großen Anklang. Viele dachten: „Die alte Welt hat zu diesem Krieg geführt, deshalb müssen wir sie radikal ablehnen.“ Dann folgte die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, was solche Überzeugungen noch zu bestätigen schien. Es gab auch keine ideologische Gegenwehr. Die Vertreter des Modernismus versprachen eine bessere, eine gerechtere Welt. Wie im Fall des Kommunismus ein leeres Versprechen.

ALIAS: Was den meisten mittlerweile aufgefallen sein dürfte. Wo bleibt die Gegenwehr?
Diamant: Im etablierten System selbst ist sie sinnlos geworden. Nachdem die Modernisten die Macht an sich gerissen hatten, wurden keine Dissidenten mehr geduldet. Wer heute ein klassischer Architekt werden möchte, kann sich darauf einstellen, gemobbt zu werden. Als jemand, der traditionell gestalten will, ist die Zeit in einer Hochschule im Grunde nicht durchzustehen. Das führt zu Selbstselektion. Wem hässliche Metall- und Glaskästen gefallen, der bewirbt sich für einen Architektur-Studiengang; der Rest macht lieber etwas anderes, zum Beispiel in der Gaming-Industrie – denn da kann man noch klassisch schöne Welten erschaffen.

ALIAS: Wir brauchen also neue Lehrpläne?
Diamant: Das System ist nicht reformierbar, man kann es nur umgehen und neue Institutionen schaffen. Ganz ähnlich wie im Kommunismus haben Vertreter des Modernismus ihre gesamte Identität nach einer Ideologie ausgerichtet. Es kann ein vernichtendes Gefühl sein, aufzuwachen und festzustellen: Alles, was ich mein Leben lang geglaubt habe, war eine Lüge. Fragen sie Sowjetbürger, die 1991 erlebt haben. Die modernistischen Architekten werden weder ihre Überzeugungen noch ihre Positionen aufgeben. Im Gegenteil: Sobald sie Gefahr wittern, motiviert sie das, noch eine Schippe draufzulegen. Eine sehr menschliche Reaktion. Man kann dieses Verhalten in jeder Sekte beobachten.

Michael Diamant: „Das System ist nicht reformierbar.“ (Foto: Nicky Nadem)

ALIAS: Ist es nicht unfair, den Architekten die gesamte Verantwortung aufzubürden? Es gibt doch auch ökonomische und technologische Zwänge, die dazu führen, dass unsere Städte hässlicher werden.
Diamant: Architekten gestalten den Diskurs darüber, was als gute Architektur gilt. Sie sind es auch, die dem Relativismus Vorschub geleistet haben. Schönheit sei relativ, sagen sie. Bauträger und Projektentwickler waren schon immer gierig. Das ist ihr Job und also nichts Neues. Sie hängen keiner ästhetischen Ideologie an – es geht ihnen ausschließlich um Profitmaximierung. Und das war vor 150 Jahren nicht anders als heute. Trotzdem wurden durch ihre Initiative wunderschöne Gebäude errichtet. Warum? Weil es keinen Relativismus gab und die Architekten klassisch ausgebildet waren.

ALIAS: Schweden ist ein freies Land. Sie können also Ihren Unmut äußern, wenn Sie Gebäude für hässlich halten. Sollte nicht der daraus entstehende Diskurs für eine Lösung sorgen?
Diamant: Ein Diskurs ist aber nicht gewollt. Wer den Modernismus kritisiert, gilt als Hitler, denn der war bekanntlich auch ein Fan klassischer Architektur. Und mit Nazis redet man nicht. Nein, im Ernst: Das ist tatsächlich die Art von Reaktion, die man erwarten muss, wenn man eine Rückkehr zu bestimmten Traditionen fordert.

ALIAS: Wie wehren Sie sich gegen solche Vorwürfe?
Diamant: Es gibt einen Grund, warum so viele, die sich bei Architectural Uprising organisieren, einen Migrationshintergrund haben. Das sorgt für einen gewissen Schutz. Meine Mutter war jüdisch; 99 Prozent ihrer Verwandten starben im Holocaust. Es wäre also schwierig, mich einen Nazi zu schimpfen. Die meisten Menschen können so eine Opferkarte natürlich nicht zücken. Es lohnt sich für einen Politiker daher nicht, modernistische Bauvorhaben zu kritisieren, wenn zu befürchten ist, dass er oder sie deswegen durch Journalisten in die Nähe des Faschismus gerückt wird. Durch die sozialen Medien gelingt es uns nun aber, diese Verteidigungslinie der Relativisten zu durchbrechen. Sie müssen sich jetzt auf Diskussionen einlassen, und das gefällt ihnen gar nicht.

Leserquiz: Wie viele Architekten bewohnen diese Plattenbauten in Melbourne? (Foto: Daniel Walker)

ALIAS: Aber noch einmal: Welche Rolle spielen technologische Notwendigkeiten? Ist es nicht einfacher und günstiger, ein modernes Gebäude zu errichten als ein traditionelles? Man muss heute deutlich effizienter bauen.
Diamant: Trotzdem ist das kein Faktor. Fast alle neuen klassischen Projekte werden technisch genauso umgesetzt wie modernistische Projekte – man füllt Betonrahmen mit Modulen. Auch das Berliner Stadtschloss ist so wiederaufgebaut worden. Und übrigens: Was klassische Architektur schön macht, sind nicht Ornamente, sondern die Unterteilungen der Fassade. Klassische Architektur ist, weil gewisse Regeln befolgt werden, leicht lesbar. Gleichzeitig gelingt es ihr, stimulierend zu wirken.

ALIAS: Können Sie ein Beispiel für diese Regeln nennen?
Diamant: Klassische Gebäude verfügen etwa nur ganz selten über eine durchgehende Reihe von Fenstern. In der Regel werden Fenster hier als symmetrische Paare angelegt. Wenn sie doch eine Reihe bilden, sind dafür die Elemente, die diese umschließen, als symmetrische Paare ausgelegt. Das bedeutet: Es existiert in einer klassischen Fassade nie bloß eine Symmetrie. Was auch der Grund dafür ist, warum es uns Freude bereitet, solche Gebäude anzuschauen.

ALIAS: Wie nachhaltig können klassische Häuser gebaut werden?
Diamant: Lassen Sie mich hier etwas ausholen. In den Nachkriegsjahren herrschte in Schweden Wohnungsnot, weil sehr viele Menschen in die Städte ziehen wollten. Deshalb beschloss die Regierung, eine Million neue Wohnungen zu bauen – für ein so kleines Land wie unseres ist das eine enorme Zahl. Es entstanden Vorstädte in modernistischem Stil. Doch schon 1970, fünf Jahre nachdem das Wohnungsbau-Programm beendet war, hatte man Probleme, die neuen Apartments zu vermieten. Anfänglich zogen die Menschen in die Vorstadtsiedlungen. Als der Markt aber Gelegenheit hatte aufzuholen, flohen sie wieder. Das führte zu sozialen Problemen, weil nur jene in den neuen Gebäuden blieben, die nicht anders konnten. Jeder, der es in solchen Vierteln zu etwas bringt, zieht woanders hin. Nur die Schwächsten bleiben.

Wer heute modernistisch baut, errichtet die Slums von morgen.

Michael Diamant

ALIAS: In Deutschland lässt sich dasselbe Phänomen beobachten, aber kaum jemand würde dies auf ästhetische Kriterien zurückführen.
Diamant: In Deutschland gab es nach dem Krieg eine noch drastischere Situation. Die Städte lagen in Trümmern und gleichzeitig strömten Millionen Flüchtlinge aus den heutigen Gebieten von Polen, den baltischen Staaten, Tschechien und so weiter nach West-Deutschland. Auch in Ihrem Land entschied man sich für die modernistische Lösung. Entschuldigen Sie, wenn ich so ehrlich bin, aber Sie haben in Deutschland eine Menge schreckliche Gebäude errichtet. Den katholischen Süden hat es etwas weniger schlimm erwischt. Aber dennoch dachte ich, als ich neulich mit dem Zug durch Köln fuhr: Das sieht aus wie Detroit. Selbst viele Dörfer, die man von der Bahnstrecke aus sehen konnte, waren unfassbar hässlich.

ALIAS: Immerhin wurde die Wohnungskrise gelöst.
Diamant: Aber zu einem Preis – die Regierungen füllten die hässlichsten Teile der Städte mit einer permanenten Unterschicht. Wer heute modernistisch baut, errichtet die Slums von morgen. Und das ist mein Punkt: Nachhaltigkeit funktioniert anders. Schweden hatte in den Neunzigerjahren bereits begonnen, die schlimmsten Bausünden wieder abzureißen. Doch dann kam es zu einer Massenimmigration in neuer Dimension und die Vorstädte fanden neue Bewohner: Menschen, deren Nachkommen noch über viele Generationen gezwungen sein werden, in diesen hässlichen Vierteln zu leben.

ALIAS: So viel zur sozialen Nachhaltigkeit. Ich hatte eher an die ökologische gedacht.
Diamant: Die meisten Menschen glauben, dass ein ökologisches Gebäude eines ist, das aus ökologischen Materialien gebaut wird. Ein Fehlschluss. Worin besteht, nachdem ein Gebäude gebaut wurde, die größte Auswirkung auf die Natur? In seinem Abriss und dem Neubau eines anderen Hauses auf demselben Grundstück. Hier kommt es zu den höchsten CO2-Emmisionen, dem meisten Verbrauch nicht-erneuerbarer Rohstoffe und so weiter. Das heißt, je länger die Lebensdauer eines Hauses ist, desto besser fällt die Bilanz für die Umwelt aus. Ich behaupte: Bauwerke, die nach klassischen Regeln gebaut werden, bleiben länger stehen.

ALIAS: Worauf führen sie diese Langlebigkeit zurück?
Diamant: Auf ästhetische und kulturelle Werte. Wie gesagt, Immobilien-Projektentwickler waren schon immer gierig. Wenn sie ihren Profit maximieren können, indem sie ein Haus abreißen und ein neues Gebäude auf dem gleichen Grundstück errichten, werden sie dies auch versuchen. Auf kurze Sicht kann es deutlich teurer sein, ein Gebäude zu sanieren, statt es abzureißen. Das entspricht der Denkweise von Projektentwicklern. Nur: Die Öffentlichkeit wird sich für den Schutz schöner Bauten engagieren. Ganz anders sieht es aus, wenn ein hässliches Bürogebäude aus den Achtzigerjahren abgerissen werden soll. Dem trauert niemand nach. Klassische Gebäude werden aber neuen Verwendungszwecken zugeführt. Aus alten Fabrikgebäuden und Lagerhallen macht man gerade an vielen Orten Luxus-Apartments. Für welche Bürogebäude, die nach dem Krieg entstanden, kann man das behaupten? Oder denken Sie an eine schöne, alte Schule, die geschlossen wird. So ein Gebäude reißt man dann nicht einfach ab, sondern lässt Firmen einziehen, Restaurants, Vereine, Cafés … Ein ökologisches Gebäude ist ein Gebäude, das wir erhalten wollen.

Stahl-Glas-Piazza aus der Hölle: Sony Center, Berlin (Foto: Jorge Franganillo)

ALIAS: Eine andere Bevölkerungsschicht zieht derweil in die Slums von ehedem: Klassische Sozialbauten erfreuen sich hoher Beliebtheit unter Besserverdienern. In die Mietskasernen der Gründerzeit, die bis weit ins 20. Jahrhundert als unwürdig galten, ziehen heute Ärzte, Werber, Rechtsanwälte – und Architekten.
Diamant: In jedem früheren Viertel der schwedischen Arbeiterklasse, das noch klassisch gebaut wurde, wohnen jetzt Menschen, denen es finanziell sehr gut geht.

ALIAS: Begreifen das mittlerweile auch die Bauträger?
Diamant: In den letzten zehn Jahren hat sich da äußert viel getan. Berlin, Düsseldorf und München sind in Deutschland zu echten Hot-Spots des New-Traditional-Stils geworden. Schauen Sie sich etwa das Projekt in der Düsseldorfer Achenbachstraße an. Ich kann Ihnen garantieren, dass der Bauträger hier nicht aus altruistischen Gründen gehandelt hat, sondern weil es verdammt viel Geld zu verdienen gab.

ALIAS: Wer zugibt, ein Gebäude wie das in der Achenbachstraße zu mögen, gerät schnell in den Verdacht, keinen besonders feinen Geschmack zu besitzen – kurz: auf Kitsch hereinzufallen. Wie reagiert man gut auf solche Vorwürfe?
Diamant: Man deckt sie als das auf, was sie sind: Bullshit. Wer entscheidet denn, was Kitsch ist? Die Modernisten haben uns den Gedanken eingepflanzt, dass Tradition gleich Kitsch ist. Weil das, was sie entwerfen, neben klassischer Architektur nicht bestehen kann, müssen sie ideologisch vorgehen. Architekturstudenten lernen von ihren Professoren, dass die Menschen früher rassistisch, sexistisch, homophob und so weiter waren. Warum sollte man etwas von solchen Monstern lernen wollen? Den Studenten wird auf diese Weise beigebracht, sich nicht für die Vergangenheit zu interessieren.

ALIAS: Ganz praktisch gefragt: Wie nimmt man Anhängern des Modernismus den Wind aus den Segeln?
Diamant: Bieten Sie Ihrem Gegenüber die Stirn und erwidern Sie: „Ja, ich liebe Schönheit.“ Der Kaiser ist nackt. Alle geben vor, modernistische Architektur zu verstehen und zu lieben – und dann gehen sie nach Hause in ihre Altbauwohnungen. Fragen Sie ihr Gegenüber, wo es lebt oder gerne Urlaub macht. Italien? Besucht ihr Gesprächspartner dieses Land wegen der modernistischen Vorstadt-Slums von Neapel oder zieht es ihn nicht eher in ein lauschiges Dorf mit klassischer Piazza? Es ist auch interessant, zu schauen, wie Städte sich vermarkten. Jede Stadt in der westlichen Welt – unabhängig davon, wie sie wirklich aussieht – zeigt in Ihrer Eigenwerbung klassische Gebäude. Im Januar besuchte ich Ottawa, eine grauenvolle Stadt, die architektonisch zerstört wurde. Aber was sieht man auf ihrer Tourismus-Website ? Die drei, vier klassischen Gebäude die noch existieren und das Innere von Museen. Warum nur? Weil diese Gebäude schön sind. Es ist Quatsch, zu behaupten, dass Schönheit relativ sei. Man muss schon zur Universität gehen, um zu verlernen, wie man zwischen „hässlich“ und „schön“ unterscheidet.

Formenspiel: Geometrie schmiegt sich an Textil-Discounter (Foto: Dierk Schaefer).

ALIAS: Lässt sich das wirklich so ausnahmslos behaupten?
Diamant: Schauen Sie, weder Sie noch ich kommen aus Japan – trotzdem ist es für uns einfach, traditionelle japanische Architektur wertzuschätzen. Sicher ist diese Architektur in ihrer Philosophie nicht so angelegt wie unser griechisches oder römisches Erbe, aber es gibt genug Ähnlichkeiten. Es geht um Harmonien, Symmetrien und so weiter. Es ist auch nicht schwer für uns, islamische Architektur zu schätzen. Ästhetisch sind die Prinzipien, die diesen Gebäuden zugrunde liegen, sehr ähnlich.

ALIAS: Warum?
Diamant: Weil wir alle Menschen sind und biologische Grundlagen teilen.

ALIAS: Ich würde sogar weitergehen und behaupten, dass es so etwas wie objektive Schönheit gibt, die unabhängig von der menschlichen Biologie existiert. In der Physik etwa finden sich jede Menge Beispiele für außergewöhnliche Eleganz, Symmetrien und mehr.
Diamant: Das stimmt. Ich bin kein Wissenschaftler, aber natürlich habe ich schon von Fraktalen und Ähnlichem gehört.

ALIAS: Wenn einem Faschismus vorgeworfen wird, hilft einem der Hinweis auf Fraktale und die Eleganz physikalischer Theorien allerdings kaum weiter …
Diamant: Aber man kann zum Beispiel anmerken, dass der Nationalsozialismus genauso wie der Kommunismus eine revolutionäre Ideologie war. Beide Bewegungen revoltierten gegen die alte Ordnung und wendeten sich so in vielerlei Weisen gegen die Tradition. Hitler etwa verachtete die christlichen Kirchen mit Inbrunst. Und weder die Kommunisten noch die Nazis glaubten an traditionelle Moralvorstellungen. Sie wollten eine neue Moral erschaffen. Die Resultate sind bekannt.

ALIAS: Was ist die wichtigste Überzeugung, die man haben kann, wenn man sich gegen modernistische Eiferer wehrt?
Diamant: Der Gedanke, dass man nicht allein ist. Im Gegenteil: Als jemand, der klassische Architektur mag, ist man sogar in der Mehrheit. Die Menschen stimmen mit ihren Füßen ab. Wo machen sie Urlaubsfotos? Wo wollen sie einen Kaffee trinken? Wo möchten sie wohnen?

Man muss schon zur Universität gehen, um zu verlernen, wie man zwischen „hässlich“ und „schön“ unterscheidet.

Michael Diamant

ALIAS: Menschen, die ein modernes Gebäude kritisieren, beginnen den entscheidenden Satz dann oft mit „Ich bin kein Architekt, aber …“
Diamant: Und das ist verrrückt. Warum sollte man vorausschicken, dass man womöglich modernistische Architektur nicht versteht? Niemand muss Expertenwissen besitzen, um ein Mitspracherecht an der eigenen Umwelt zu haben. Zurzeit sind es vor allem gut verdienende Menschen, die es sich leisten können, in klassischen Häusern zu leben, und für diese Klientel werden auch die meisten neuen Gebäude in klassischem Stil gebaut. Wenn man wirklich etwas Gutes tun möchte, sollte man sozialen Wohnungsbau fördern, der schöne Gebäude hervorbringt. Es hilft nichts, Plattenbauten bloß anzumalen und Blumen zu pflanzen. Hässliche Gebäude sorgen für echtes Leiden in der Welt. Sie nehmen großen Einfluss auf das Lebensgefühl der Menschen.

ALIAS: Aber es ist schwierig, dies zu quantifizieren. Der moderne Mensch liebt es bekanntlich, alles in Zahlen auszudrücken, und nimmt wenig anderes ernst.
Diamant: Die Wissenschaft ist zu unserer Religion geworden, alles muss beweisbar sein. Mit Zahlen geht das in einigen Bereichen sehr leicht, in anderen gar nicht. Verstehen sie mich nicht falsch: Ich bin ein großer Freund des kritischen Denkens, sonst wäre ich nicht Teil einer Bewegung wie Architectural Uprising. Gleichzeitig finde ich es aber absurd, wenn mir Beweise abverlangt werden, weil ich sage, dass etwas schön ist. Wasser ist feucht – können Sie das beweisen? All dies ist Teil des Relativismus, der den kulturellen Diskurs dominiert.

ALIAS: Woher rührt Ihre Motivation? Warum halten Sie an Schönheit fest?
Diamant: Das begann schon, als ich noch ein Teenager war. In der Stockholmer Innenstadt fiel mir und einigen Freunden auf, wie schön die alten Gebäude waren und wie hässlich im Vergleich die Nachkriegsbauten wirkten. Ich fragte mich: Warum bauen wir heute so hässlich, wenn wir hundertmal reicher sind als früher? Und dasselbe gilt nicht nur für Stockholm, sondern, wie ich später herausfand, selbst für Dörfer im hohen Norden Schwedens. Dort gibt es auch in noch so kleinen Orten unfassbar schöne Gebäude. Die Frage ist also: Warum sind unsere Städte hässlicher als jemals zuvor in der Geschichte? Und das ist nicht nur im Fall von Häusern so, sondern auch bei Straßen, Treppen, Brücken, Straßenlaternen und so weiter. Die ästhetische Verarmung durchzieht unsere gesamte Kultur und betrifft deshalb jeden Menschen.

Kairo: Beton für 22 Millionen Einwohner (Foto: Ashy Catinc)

ALIAS: Ist das nicht ein westliches Luxusproblem?
Diamant: Ganz und gar nicht. Im Westen hat es uns bereits schlimm erwischt, aber noch düsterer sieht es für die dritte Welt aus. Das dramatische Bevölkerungswachstum in diesen Ländern hat zu städtebaulichen Katastrophen geführt. Berlin hatte vor 100 Jahren in etwa dieselbe Einwohnerzahl wie heute. Ganz anders sieht es in Städten wie Kairo oder Mumbai aus. In solchen Metropolen hat sich die Einwohnerzahl zum Teil verhundertfacht. Entsprechend stellt sich dort das Verhältnis zwischen klassischer Architektur und modernistischer dar: hässliche Betonwüsten allerorten.

ALIAS: Ob in sogenannten Entwicklungsländern oder den Städten des Westens: Was mich fasziniert, ist die Banalität hinter den Konzepten vieler modernistischer Projekte. Vor kurzem fiel mir im Hamburger Hafen wieder das Dockland-Bürogebäude auf, das als Schiffsbug daherkommt. Platter kann man das Thema Hafen eigentlich nicht angehen.
Diamant: Modernistische Architektur ist genauso banal wie modernistische Kunst. Wir haben es mit einem gigantischen So-tun-als-ob-Spiel zu tun. Talent ist nicht mehr vonnöten. Jeder kann eine Banane mit einem Filzstift bekritzeln, sie auf eine Leinwand kleben und behaupten, das sei Kunst. Es geht in erster Linie darum, sich in einem sozialen Milieu zu positionieren und sich Anerkennung zu sichern. Ein hoher Status ermöglicht Macht. Wie jeder andere Mensch auch, möchten Modernisten unter ihren Freunden und Bekannten als kultiviert gelten. Ein Mittel hierzu besteht darin, vorzugeben, zeitgenössische Architektur zu verstehen. Aber die Tiefe ist vorgetäuscht – und das kann man auch erkennen. Man muss nur zu dem stehen, was man erkannt hat.

ALIAS: Herr Diamant, ich danke Ihnen für das Gespräch.


Δ Interview: Florian Friedman

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