Wenn der schottische Sänger Lewis Capaldi keine Musik macht, jagt er Trolle im Netz. Ein Gespräch über soziale Medien und die Notwendigkeit, hin und wieder eine reinzubekommen.
Als Corona der Welt noch nicht zusetzte, stieg Lewis Capaldi manchmal auf die Bühne und begrüßte sein Publikum mit den Worten: „Wenn ihr fette Kerle mögt, die traurige Lieder singen, seid ihr hier genau richtig.“ Dann lachte die Halle, und Capaldi sang ein trauriges Lied. Mit dem Look einer Ein-Mann-Kelly-Family und der Stimme eines Gottes.
In der Pandemie bleiben Capaldi die sozialen Medien, um sich selbst auf die Schippe zu nehmen. Seine Posts erreichen dort viele Millionen Fans. Im Bewusstsein darüber, dass kein Instagram-Filter der Welt ihm das Aussehen eines Popstars verleihen wird, hat der 24-jährige im Netz eine Humor-Offensive gestartet. Manchem Internet-Troll tippt die „schottische Beyoncé“, wie Capaldi sich selbst nennt, aber auch schon mal ein „Fick dich!“ hinterher.
Wie gut können Sie mit Kritik umgehen?
Ich liebe Kritik, aber ich höre sie nicht gern. Trotzdem ist es gut, manchmal gesagt zu bekommen, wenn etwas an einem scheiße ist. Darin waren meine Eltern immer ausgezeichnet.
Das klingt harsch.
Ich bin als Kind, wenn meine Eltern beim Fernsehen saßen, oft zu ihnen gekommen, um meine selbstgeschriebenen Songs vorzuspielen. Wenn sie das Stück gut fanden, haben sie gejubelt – aber vor allem meine Mutter hatte auch noch nie ein Problem damit, mir zu sagen, was sie grauenvoll fand.
Eine gute Vorbereitung für das Leben als Erwachsener?
Es wird heute zu wenigen Leuten gesagt, dass sie schlecht in dem sind, was sie tun. Die meisten bekommen zu hören: „Super, weiter so!“ Ich bin zum Beispiel ein grauenhafter Fußballer – und das hat man mir auch schon in jungen Jahren gesagt. Gott sei Dank, denn ich liebte Fußball und bestimmt wäre ich sonst irgendwann auf die Idee gekommen, Profi zu werden. Es geht nicht darum, Träume zu zerstören, aber man muss wissen, was man kann und was nicht.
Die Leute sagen, dass ich wie ein Kartoffel-Smiley aussehe. Und wissen Sie was? Ich finde das zum Schreien komisch.
Lewis Capaldi
Vermutlich existieren diese Momente auch in Ihrem Leben noch.
Sicher, ich wollte zum Beispiel eine Menge Songs auf diesem Album haben, die nicht besonders gut waren. Es brauchte eine ganze Reihe von Leuten, um mir klar zu machen, dass die Stücke nichts taugten.
Nicht alle erfolgreichen Musiker haben das Glück, sich in einem so gesunden Umfeld zu bewegen. Stattdessen sind viele von Ja-Sagern umgeben.
Da hilft es, schottisch zu sein. Wenn du dich wie ein Arschloch aufführst, wird dir ein Schotte das sofort sagen. Meine ganze Crew ist schottisch, bis auf eine Person, und die kommt aus Australien. Und der einzige Mensch, der noch ehrlicher zu dir sein wird als ein Schotte, ist ein Australier. Ich meine: Es gibt nur zwei Länder auf der Welt, Schottland und Australien, in denen das Wort „Cunt“ als Kosename verwendet wird. Auch in meiner Familie war das ganz normal.
Stählt einen so etwas für die sozialen Medien?
Vermutlich schon. Ich bekomme ja Tweets, in denen man mir nicht nur sagt, dass meine Musik scheiße ist, sondern dass ich ein hässlicher Bastard bin. Die Leute sagen, dass ich wie ein Kartoffel-Smiley aussehe. Und wissen Sie was? Ich finde das zum Schreien komisch. Manchmal muss man eben eine reinbekommen. Zynismus ist wichtig.
Es verdirbt Ihnen nicht die Laune, durch die Reaktionen auf Ihre Tweets zu scrollen?
Nein, ich liebe das. Ich verstehe aber auch, wie sich jemand, der kein dickes Fell hat, so etwas vielleicht zu Herzen nimmt. Das kann furchtbar sein. So wie ich erzogen wurde, kann ich über bösartige Tweets aber nur lachen. Ich liebe es auch, auf solchen Müll zu antworten. Viele, die sich online daneben benehmen, sind jung und haben noch nie eine Rückmeldung auf ihren Quatsch bekommen. Für die fühlt es sich wahrscheinlich so an, als würden sie nicht wirklich zu jemandem sagen, dass er scheiße aussieht. Wenn sie dann als Antwort ein „Fick dich!“ von mir bekommen, macht die Konfrontation vielleicht etwas mit ihnen.
Früher hat es auf dem Spielplatz für Beleidigungen eine Abreibung gegeben.
Genau. Es ist wichtig, dass die Leute mitbekommen, dass am anderen Ende der Leitung eine echte Person sitzt. Wenn du das nicht erfährst und so durchs Leben gehst, bekommst du irgendwann richtig den Arsch versohlt. Nicht von mir – verstehen Sie mich nicht falsch. Ich kann ja überhaupt nicht kämpfen.
Wie viel Zeit opfern Sie für soziale Medien?
Keine Ahnung, aber ich lese immer wieder: „Lewis Capaldi sucht auf Twitter definitiv nach seinem eigenen Namen.“ Und das stimmt! Warum? Weil mir das viele Stunden an Unterhaltung im Tourbus beschert. Das Lustige ist auch, dass Leute, die mich online beleidigen, oft nur 50 Follower haben, meine Reaktion auf Instagram aber von fünf Millionen Menschen gesehen wird. Den Kids ist gar nicht bewusst, dass sie sich öffentlich blamieren könnten. Mein Ratschlag lautet daher: Wenn du ein Arschloch bist, sei besser kein Arschloch online.
Könnte man über so etwas gut einen Song schreiben?
Vielleicht, aber ich lasse da lieber die Finger von. Die sozialen Medien haben keine Tiefe.
Und doch nehmen sie im Leben mancher Leute einen riesigen Raum ein.
Das stimmt, und ich selbst liebe es schließlich auch, auf Instagram mein Hirn zum Schmelzen zu bringen. Die sozialen Medien sind eine fantastische Erfindung, aber was am Ende daraus wurde, ist sehr flach. Was ist Instagram denn? Pornografie. Es geht um Dinge, nach denen wir uns sehnen. Um das Leben von anderen, um ihre Autos, ihre Häuser, ihre Reisen. Es finden in den sozialen Medien aber zum Beispiel auch Gespräche über geistige Gesundheit statt. Daran sieht man, wie fantastisch diese Technologie genutzt werden könnte.
Viele scheinen aber nicht zu begreifen, dass sie keine Kunden der sozialen Medien sind, sondern das Produkt.
Total. Und man muss sich immer daran erinnern, dass Instagram nicht das wahre Leben ist. Tatsächlich kümmert es aber kein Schwein, ob Instagram real ist oder nicht. Menschen lieben Dinge, die fake sind. Seien es Kino, Fernsehen oder irgendein anderes Medium. Sie wollen etwas Unwirkliches, weil ihr wirkliches Leben nichts hermacht. Ich sage hier nichts, was vorher noch niemand gesagt hat. In ein paar Jahren wird das vermutlich eh alles verpuffen. Nicht die sozialen Medien an sich, aber solche Plattformen.
Die Leute gewöhnen sich vielleicht daran wie an Fast-Food und konsumieren irgendwann weniger. Sie könnten lernen, damit umzugehen.
Das ist eine gute Sichtweise. Vielleicht werden die Menschen weiser. Wir vergessen ja auch oft, wie neu das alles ist. Ich stamme aus der letzten Generation von Kindern, die keine Handys hatten. Ich war nicht ständig erreichbar, wenn ich draußen gespielt habe.
Auch Sie haben Ihren Erfolg aber dem Internet zu verdanken: Ihr Manager hat Sie online entdeckt. Andererseits sind Sie aber auch schon als Elfjähriger in Pubs aufgetreten.
Ja, mein Bruder spielte in einer Band und organisierte Open-Mic-Gigs für mich. Natürlich wussten die Veranstalter nicht, dass ich erst elf war. Ich versteckte mich bis zu meinem Auftritt in der Toilette des Pubs. Wenn es an der Zeit war aufzutreten, wagte ich mich hervor und ging auf die Bühne. Nachdem ich meine Songs gesungen hatte, wurde ich immer rausgeworfen. Das funktionierte eine ganze Weile so. Neun Jahre, um genau zu sein. Man kann also nicht sagen, dass ich über Nacht Erfolg gehabt hätte.
Mit vier Jahren stand Lewis Capaldi zum ersten Mal auf der Bühne. Als Elfjähriger trat er bereits in Pubs auf. Heute gehört der schottische Singer-Songwriter zu den erfolgreichsten Musikern des Vereinigten Königreichs: Sein Debüt „Divinely Uninspired to a Hellish Extent“ war 2019 das meistverkaufte britische Album des Jahres. 2020 wurde sein Stück „Someone You Loved“ bei den Brit Awards zum „Song of the Year“ gewählt. Unter uns: Der Track „Bruises“ vom selben Album ist um Längen besser.
Interview: David Kilian
Dieser Artikel erscheint als Teil unserer Technik-Wochen.