Krieg der Identitäten

Ist die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr? Ja, sagt die Migrationsforscherin Sandra Kostner und nennt als einen Grund hierfür „Opfer- und Schuld-Unternehmer“, die nach moralischem Gewinn streben.

ALIAS: Frau Kostner, Sie haben mit rund 70 Kolleginnen und Kollegen das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ gegründet. Ziel Ihrer Organisation ist es, die Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologisch motivierte Einschränkungen zu verteidigen. Warum halten Sie ein solches Netzwerk für notwendig?

Sandra Kostner: Wir beobachten zunehmend, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt wird. Von innen wie außen versucht man, die Wissenschaft weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren. Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden. Hochschulangehörige sind erheblichem Druck ausgesetzt.

ALIAS: Von was für einem Druck sprechen Sie?

Kostner: Sowohl andere Hochschulangehörige als auch externe Aktivisten skandalisieren zum Beispiel die Einladung missliebiger Gastredner. Oder man versucht, Forschungsprojekte, die mit gewissen weltanschaulichen Vorstellungen nicht konform gehen, zu verhindern und die Publikation missliebiger Ergebnisse zu unterbinden. Das alles gefährdet das freie Forschen und Lehren.

ALIAS: Auf welchem Weg wollen Sie hier gegensteuern?

Kostner: Wir möchten mit unterschiedlichen Mitteln eingreifen, etwa indem wir, wenn es Angriffe auf Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gibt, diesen Personen beistehen und Öffentlichkeit schaffen. Hochschulleitungen oder Dekanate knicken oft ein, wenn der – meist moralische – Druck nur aus einer Richtung kommt. Wer Öffentlichkeit schafft, sorgt hier für ein Gegengewicht. Wir wollen aber auch die Bedeutung von Wissenschaftsfreiheit für die Gesellschaft durch entsprechende Veranstaltungen verdeutlichen. Als Wissenschaftler kommt uns da eine besondere Verantwortung zu, denn viele der letztlich freiheitsfeindlichen Agenden haben ihren Ausgangspunkt an den Universitäten.

Viele der freiheitsfeindlichen Agenden haben ihren Ausgangspunkt an den Universitäten.

Sandra Kostner

ALIAS: Sie meinen den Einfluss der Postmoderne, dem wir letztlich viele wahrheits- und freiheitsfeindliche Ideologien verdanken?

Kostner: Ich möchte gar nicht die postmoderne Philosophie in Bausch und Bogen verdammen. Michel Foucault zum Beispiel hat deutlich klügere Gedanken geäußert als seine Epigonen. Die Universitäten sind aber ein Hotspot, in dem viele freiheitsfeindliche Ideologien erdacht werden und von dort mit den Absolventen in die Welt getragen werden. So ist es alles andere als ein Zufall, dass ich für meine Kritik an diesen freiheitsfeindlichen Bestrebungen sehr viele zustimmende Zuschriften von Wissenschaftlern und Studierenden bekomme. Jemand schrieb mir neulich, er habe in einem Seminar den Begriff „Mentalität“ verwendet und dann von seiner Dozentin zu hören bekommen, dass sie nie wieder so ein rassistisches Wort in ihrem Seminar hören möchte.

ALIAS: Ist ihr Netzwerk eine konservative Gegenbewegung zur Dominanz linker Positionen an den Universitäten? Möchten Sie verlorenes Territorium zurückgewinnen?

Kostner: Nein, ganz und gar nicht. Wir verstehen uns als liberale Kräfte – von linksliberal bis liberal-konservativ. Als Liberale geht es uns nicht um Deutungshoheit, sondern um Perspektivenvielfalt. Daher verteidigen wir auch keine Weltanschauungen, sondern individuelle Freiheitsrechte.

ALIAS: Was Sie für den Wissenschaftsbetrieb beschreiben, ist auch im Rest der Gesellschaft zu beobachten: Debatten werden immer schneller auf eine moralische Ebene gezogen. Sie verwenden in diesem Zusammenhang die Begriffe der Opfer- und Schuld-Unternehmer. Was meinen Sie damit?

Kostner: Ich habe hier zur Analyse das Konzept der „identitätslinken Läuterungsagenda“ entwickelt. Als Identitätslinke bezeichne ich Menschen, die sich zwar links verorten, aber eigentlich eine rechte Politik verfolgen. Sie sehen Menschen nicht als Individuen, sondern nur als Merkmalsträger, die einem bestimmten Kollektiv angehören. Der Kollektivierung liegen ethnische, kulturelle oder Geschlechtsmerkmale zugrunde. Also genau die Merkmale, die Rechte benutzen, um Menschen ungleich zu behandeln. Die Identitätslinken wollen nun genau jene Merkmalsgruppen aufwerten, die Rechte abwerten. Das ist positiv! Nur: Sie sind so fixiert auf die gleichen Merkmale, dass sie die Menschen nicht aus den von Rechten geschaffenen Identitätsgefängnissen entlassen, sondern sie weiterhin darin einschließen. Einzig die Richtung der Abwertung wird umgedreht.

ALIAS: Welche Funktion übernehmen dann die Konzepte „Schuld“ und „Opfer“?

Kostner: Eine Schuldidentität bekommt jeder zugeschrieben, der ein Merkmal – wie etwa „weiß“ oder „männlich“ – trägt, das Rechte aufwerten. Eine Opferidentität erhalten entsprechend alle, die nicht-weiß, weiblich, nicht-christlich oder homosexuell sind. Gut beobachten lässt sich das gerade in den USA, die uns in solchen Angelegenheiten immer einige Jahre voraus sind. Dort wurde den Afro-Amerikanern in der Vergangenheit ja tatsächlich massives Unrecht angetan. Was aber nicht zwingend heißt, dass dies im individuellen Fall noch immer so ist. Unter den Prämissen der identitätslinken Läuterungsagenda wird aber für jeden Afro-Amerikaner weiterhin ein Status als Opfer festgeschrieben.

ALIAS: Interessant finde ich, dass diese Opfer-Identität komplett losgelöst von der eigenen Familiengeschichte konstruiert werden kann. Als Afro-Amerikaner gilt schließlich auch jemand, dessen Eltern als Unternehmer aus Afrika gut begütert in die USA eingewandert sind. Trotzdem könnte die betreffende Person sich in das Opferkollektiv „Afro-Amerikaner“ einreihen, also auf moralischer Ebene als Nachfahre von Sklaven gelten, denen großes Unrecht angetan wurde.

Kostner: Etwas Ähnliches sehen wir gerade bei der neuen Vizepräsidentin Kamala Harris, deren Eltern aus Jamaika beziehungsweise Indien stammen und Wissenschaftler sind. Harris ist in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen, kann aber sogar für zwei Opfer-Identitäten sprechen: als sogenannte „Person of Color“ und als Frau. Auch die Obama-Töchter gelten aus dieser Perspektive als nicht-privilegierte Minderheiten. Dadurch hatte Malia Obama zum Beispiel an der Universität in Harvard erleichterte Zugangsbedingungen. Ich halte so etwas für fatal. Niemand, der sich den Lebensstandard der Obamas anschaut, würde sagen: „Das ist eine unterprivilegierte Familie.“ Der ursprüngliche Gedanke, benachteiligten Minderheiten zu helfen, war positiv, aber inzwischen hat sich der Unterstützungsgedanke von der realen Lage der Individuen entkoppelt.

ALIAS: Wo liegen die Wurzeln dieser Entwicklung?

Kostner: Die identitätslinke Läuterungsagenda ist in den 1960er-Jahren als Produkt der erfolgreichen Civil-Rights-Bewegung entstanden. Martin Luther King und andere haben damals für Chancengleichheit gekämpft; die nächste Generation bemerkte aber, dass im Civil-Rights-Act auch ein Schuldeingeständnis der weißen Mehrheit enthalten war. Zudem fühlten sich jüngere, gut ausgebildete Weiße moralisch schuldig für das von Weißen an Schwarzen begangene Unrecht. Auf der einen Seite gab es also Menschen, die sich schuldig fühlten und auf der anderen Seite Menschen, die diese Schuldgefühle als für ihre Zwecke nutzbar erkannten.

Kämpfte in den 60er-Jahren für Chancengleichheit: Martin Luther King Jr. (Quelle: Rowland Scherman, Wikimedia Commons)

ALIAS: Sie sprechen von einer „Läuterungsagenda“. An welchem Punkt kam die Läuterung ins Spiel?

Kostner: Die Läuterung ergibt sich aus dem Schuldgefühl, das stark von den evangelikalen Kirchen in den USA geprägt ist. Viele der frühen Läuterungs-Entrepreneure wurden in diesen Kirchen sozialisiert. Sie haben den immerwährenden Kreislauf von Sünde, Beichte und Läuterung auf die säkulare Welt übertragen. Der weiße Mensch ist demnach aufgrund des an Schwarzen begangenen rassistischen Unrechts in Sünde geboren, er ist also mit einer Erbsünde belegt. Diese kann er nie überwinden; er kann seinen Sündenstatus nur mildern, indem er Läuterung anstrebt. Konkret heißt das: indem er sich geläutert von dem rassistischen Denken zeigt, das zum Unrecht an Schwarzen führte. In der säkularisierten Version des Erbsündenmodells geht es aber auch darum, moralische Dividenden einzustreichen, um so im eigenen sozialen Umfeld einen Statusgewinn zu erreichen.

ALIAS: Wie zeigt man sich geläutert?

Kostner: Dafür reicht es, irgendwo Rassismus zu entdecken. Schon wer „Rassismus!“ ruft, kassiert einen moralischen Gewinn. Abhilfe wird dann immer auf die gleiche Weise geschaffen: durch Bevorzugung der – zumeist ehemaligen – Opfergruppen. Um das heutzutage überhaupt noch in großer Zahl tun zu können, wird skandalisiert, und man schaut gar nicht mehr danach, was die Intentionen des vermeintlichen Rassisten waren.

Schon wer „Rassismus!“ ruft, kassiert einen moralischen Gewinn.

Sandra Kostner

ALIAS: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Kostner: Denken Sie an das Fußballspiel zwischen Paris Saint-Germain und Başakşehir im Dezember, das nach 15 Minuten abgebrochen wurde, weil der rumänische Schiedsrichter den schwarzen Assistenztrainer der türkischen Mannschaft als „Negru“ bezeichnet hatte. Das Wichtige ist hier: Der Schiedsrichter sprach im besagten Moment Rumänisch, und in dieser Sprache handelt es sich bei dem Ausdruck „Negru“ schlicht um das Wort für „schwarz“. Trotzdem meinte man nun wieder zeigen zu können: „Hier gibt es Rassismus, das ist unerträglich und wir haben es erkannt.“ Hätte man erstmal mit dem Schiedsrichter gesprochen, wäre das Ganze schnell beizulegen gewesen. Darin bestand aber gar nicht das Ziel. Es ging darum, eine riesige Sache aus dem Vorfall zu machen, die dann international durch die Medien geistert.

ALIAS: Sie meinen, es steckte nicht das Ansinnen dahinter, Ungleichheiten abzubauen?

Kostner: Die meisten wirklichen Ungleichheiten, die sich staatlicherseits abbauen lassen, sind längst beseitigt. Die rechtlichen Barrieren existieren nicht mehr. In den USA werden Schwarze mittlerweile sogar rechtlich deutlich bevorzugt. Der Rassismus-Vorwurf ist in viel zu vielen Fällen zum Selbstzweck verkommen. Daran sind auch die Opfer-Unternehmer schuld, die durch ihre Anschuldigungen eine unglaubliche gesellschaftliche Macht erlangen und das auch wissen. Der Staat kann nicht alles steuern – aber genau das wollen die Anhänger der Läuterungsagenda. Er soll als Sozial-Ingenieur fungieren, der schaut, ob eine Gruppe statistisch exakt repräsentiert ist. Wenn es 13 Prozent Afro-Amerikaner in den USA gibt, sollen diese auch in allen Bereichen durch einen Anteil von genau 13 Prozent vertreten sein.

ALIAS: Dahinter steckt ganz offensichtlich der Wunsch, nicht nur Chancen, sondern Ergebnisgleichheit zu erzielen.

Kostner: Wobei diese Akteure wissen, dass so etwas in einer realen Gesellschaft nicht umsetzbar ist. Und darum geht es auch: Es wird ein unerreichbares Ziel definiert, denn dann kann der Opfer- oder Schuld-Unternehmer die eigene Agenda ins Endlose treiben.

ALIAS: Das Ziel ist, scheint mir, außerdem nicht erreichbar, weil zwei Resultate gefordert werden, die sich widersprechen. Einerseits möchte man Vielfalt, andererseits aber auch Ergebnisgleichheit. Doch wenn Menschen unterschiedlich sind, ist auch abzusehen, dass je nach Gruppe unterschiedliche Ergebnisse vorliegen werden. Nehmen wir das Beispiel Männer und Frauen …

Kostner: Das Weltbild der identitätslinken Läuterungsagenda ist im Grunde menschenfeindlich. Es wird abgesprochen, dass es zwischen Männern und Frauen unterschiedliche Interessenlagen und vielleicht auch Fähigkeiten gibt, dass also etwa Gründe existieren, warum mehr Männer in technische Berufe gehen und Frauen eher in soziale Berufe. Vielleicht sind Frauen auch deshalb nicht so stark in Vorständen vertreten, weil eine 70-Stunden-Woche nicht ihr Traumziel ist, sondern sie sich eine verträglichere Work-Life-Balance wünschen. Aber so etwas darf nicht thematisiert werden, denn damit würde man eingestehen, dass es andere Gründe als Sexismus dafür gibt, dass Frauen und Männer unterschiedliche Berufe wählen und Karrierewege beschreiten. Ich halte diese Einstellung für menschenfeindlich, weil sie die persönlichen Interessen von Individuen negiert.

ALIAS: Sehen Sie in dieser Ideologie auch eine Gefahr, weil die tatsächlichen Probleme gar nicht angegangen werden können, wenn ständig gesinnungspolitisch von ihnen abgelenkt wird? Bezeichnend fand ich in jüngerer Zeit, wie der Sturm auf das Kapitol in Washington diskutiert wurde. Viele Demokraten in den USA nahmen dieses Ereignis zum Anlass, die Anschuldigung vorzubringen, dass Aktivisten der Black-Lives-Matter-Bewegung, hätten diese das Kapitol gestürmt, sofort erschossen worden wären. Trumps Anhänger fasste man jedoch angeblich mit Samthandschuhen an. In Deutschland wurde diese These eifrig wiederholt. Auch hier scheint es doch wieder vor allem um Läuterung zu gehen, nicht um das eigentliche Problem, oder?

Kostner: Interessanterweise kamen die Anschuldigungen, die sie nennen, bereits nach zwei Stunden – und nicht nur aus der BLM-Bewegung heraus, sondern von Biden, den Obamas und so weiter. Der Vorwurf ist aber schlicht kontrafaktisch. Es gab in den USA über fünf Monate heftigste BLM-Demonstrationen. Die Polizei war in dieser Zeit extrem zurückhaltend. In Seattle wurde der Capitol Hill sogar von der Bürgermeisterin gewissermaßen zur Besetzung freigegeben.

ALIAS: In einer ganzen Reihe von US-amerikanischen Städten kam es zudem während der BLM-Proteste zu Plünderungen, Gebäude standen in Flammen und Polizeiwachen wurden verwüstet.

Kostner: Sicher kann man sagen, dass das Kapitol in Washington einen anderen Stellenwert hat. Ein Eins-zu-eins-Vergleich ist hier nicht gegeben. Trotzdem muss man feststellen, dass innerhalb von fünf Monaten weniger Menschen aufseiten der BLM-Demonstranten durch Polizisten ums Leben kamen als in wenigen Stunden beim Sturm aufs Kapitol aufseiten der Trump-Anhänger. Anstatt dies zur Kenntnis zu nehmen, wurde der Vorfall sofort genutzt, um die eigene Agenda zu bekräftigen.

Brennende Geschäfte in Minneapolis nach Black-Lives-Matter-Ausschreitungen (Quelle: Lorie Shaull)

ALIAS: Auch bei der Wissenschaftsfreiheit, für die Sie sich stark machen, geht es letztlich um Meinungsfreiheit. Da wir gerade von den USA gesprochen haben: In diesem Land scheint das Konzept der Meinungsfreiheit viel höher geachtet zu werden als bei uns. Haben wir da Nachholbedarf?

Kostner: Das ist im angelsächsischen Raum schon immer so gewesen. Der Wert der Freiheit wird in diesen Gesellschaften viel länger gelebt. In Deutschland reden wir dagegen oft nur von Freiheit – auf der rhetorischen Ebene sind wir unglaublich gut, setzen das aber nur bedingt in der Praxis um.

ALIAS: In den angelsächsischen Ländern hat man meines Erachtens viel stärker durchdrungen, dass Meinungsfreiheit notwendig ist, damit auch verletzende Meinungen Gehör finden und so Diskurse möglich werden, über die sich essenzielle Probleme lösen lassen. Eine Gesellschaft braucht ja keine Meinungsfreiheit, um klären zu können, ob Diego Maradona besser Fußball gespielt hat als Lionel Messi. Erst wenn es ans Wesentliche geht, können abweichende Standpunkte tief verletzen.

Kostner: Ich glaube, es war Noam Chomsky der gesagt hat, dass er keine Meinungsfreiheit benötigt, um übers Wetter zu reden. Mein Witz dazu wäre: In den heutigen Klimadebatten vielleicht schon. Meinungsfreiheit muss nur deshalb als Menschenrecht im Grundgesetz verankert sein, weil Menschen gewisse Meinungen als Zumutungen empfinden. Eine Gesellschaft muss einüben, abweichende Meinungen zu tolerieren. Darüber wird auch kommunikative Selbstbestimmung ermöglicht. Menschen bestimmen über sich als denkende und sprechende Wesen. In der Demokratiebildung werden Grundrechte aber so gut wie gar nicht behandelt. Darin sehe ich ein Problem. Es geht stattdessen überwiegend um Toleranz, Anerkennung und Wertschätzung. Was aber in gewisser Weise bereits die kommunikative Selbstbestimmung der Bürger beschneidet. Natürlich ist es in einer Demokratie wichtig, dass die Menschen sich nicht ständig Beleidigungen um die Ohren hauen – schon aus Anstand heraus sind Grenzen notwendig. Das Sprichwort „Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg auch keinem andern zu“ ist philosophisch gut begründet. Wir neigen aber in Deutschland dazu, als erstes immer über die Schranken zu sprechen und nicht darüber, was an Meinungen unbedingt geschützt werden muss.

ALIAS: Und Anstand ist ja vielleicht auch keine Frage des Gesetzes.

Kostner: Genau. Abweichende Meinungen müssen zugelassen werden, auf der anderen Seite sollte man mit diesen Meinungen dann aber argumentativ umgehen und in seiner Reaktion nicht direkt auf den Menschen hinter der Äußerung abzielen. Jede Gesellschaft braucht selbstverständlich Regeln in der Kommunikation. Wenn immer nur versucht wird, den anderen zu beleidigen und lächerlich oder mundtot zu machen, herrscht ein toxisches Klima, in dem Freiheit sich nicht mehr entfalten kann.

ALIAS: Welche Rolle spielen die sozialen Medien hier?

Kostner: Die heizen den Streit natürlich an. Wobei die Polarisierung der westlichen Gesellschaften schon länger ein Problem ist. Ich finde Bill Bishops Buch „The Big Sort“ diesbezüglich sehr interessant. Dort wird beschrieben, dass sich die Gesellschaft durch den höheren Wohlstand, der es vielen Menschen erlaubt, ihren Wohnort freier zu wählen, immer stärker aufteilt. Wer eine neue Wohnung sucht, spürt schon, ohne wirklich darüber nachzudenken, ob er oder sie sich in einer bestimmten Nachbarschaft wohlfühlt. Wenn ich etwa in einer Straße stehe, in der jede Menge Porsches parken, wäre das für mich kein Ort, an dem ich unbedingt leben möchte. Es kommt so zu immer klarer abgegrenzten Clustern, und Menschen aus unterschiedlichen Schichten haben immer weniger persönlichen Kontakt miteinander. Die sozialen Medien begünstigen dann noch die überregionale Meinungsblasen-Bildung, auch weil sie mit Algorithmen arbeiten, die scharf formulierte Beiträge favorisieren und den Nutzer mit mehr Likes, Retweets und so weiter belohnen. Ein weiteres Problem ist, dass selbst die klassischen Medien und sogar die Politik sich durch den neuen Ton beeinflussen lassen.

Durch Trump-Anhänger zerstörtes Fenster
im Kapitol (Foto: Bill Cassidy/Wikimedia Commons)

ALIAS: Man gewinnt mitunter den Eindruck, dass Politik und Medien sich unterhalten und auch streiten, dass die Bevölkerung in die Erwägungen dieser beiden Lager aber immer weniger einbezogen wird.

Kostner: Ich habe manchmal das Gefühl, als würde über unsere Köpfe hinweg Ping-Pong gespielt. Jeder einzelne in der Bevölkerung muss aktiver werden und schauen, dass er die Bälle von da oben herunterbekommt und mitspielen kann.

ALIAS: Wer dann aber Debatten führt, um seinen sozialen Status zu erhöhen, also eine moralische Dividende einzufahren, gerät schnell ins Wettrüsten.

Kostner: Das stimmt, es findet ein enormes Aufrüsten statt. Die Menschen werben um soziale Anerkennungspunkte, weshalb in öffentlichen Debatten stark die moralische Ebene bedient wird. Ist das Publikum dann weg und man spricht unter vier Augen, äußern sich die meisten Menschen viel differenzierter.

ALIAS: Um die moralische Ebene dann noch gut bespielen zu können, werden immer engere Nischen gesucht, in denen man seine Tugend signalisieren kann.

Kostner: Dem Menschen ist ein Moralknochen angeboren. In traditionellen Gesellschaften wird er durch die vorgegebenen spirituellen Felder ausgelastet. Je brüchiger die Religionen dastehen, desto mehr suchen die Menschen sich Ersatzschauplätze, auf denen sie ihr moralisches Bedürfnis befriedigt wissen. Es ist unverkennbar, wie quasi-religiös solche Themen wie Rassismus, Klimawandel oder Gender aufgeladen sind. Es geht fast immer um Gläubige und Ketzer.

ALIAS: Dabei sollte doch gerade eine Frage wie der Klimawandel wissenschaftlich und nicht moralisch behandelt werden, oder?

Kostner: Rassismus aber auch. Offener Erkenntnisgewinn ist in der Wissenschaft unabdingbar. Wer vorher schon alles weiß, muss nicht forschen. Wenn ich etwa in meinem Fachgebiet, der Migrationsforschung, von Anfang keinen Zweifel daran hege, dass Deutschland ein von strukturellem Rassismus geprägtes Land ist, werde ich diesen Rassismus auch überall diagnostizieren. Das hat eine Entlastungsfunktion: Man muss kaum noch denken, kann aber unglaublich viel publizieren. Schließlich stehen die Ergebnisse bereits fest. Die Bundesregierung gibt jetzt eine Milliarde Euro für die Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus aus. Nicht wenige dieser Gelder gehen an Organisationen, die davon leben, dass es diesen zu bekämpfenden Rassismus gibt.

Wenn ich von Anfang keinen Zweifel daran hege, dass Deutschland ein von strukturellem Rassismus geprägtes Land ist, werde ich diesen Rassismus auch überall diagnostizieren.

Sandra Kostner

ALIAS: Sie sagten eben, das Phänomen der identitätslinken Läuterungsagenda sei in den 1960er-Jahren entstanden. Warum ist der Trend nicht abgeflaut. Das heißt: Warum führen wir heute noch Glaubenskriege in Rassismusfragen, die häufig von der Faktenlage völlig losgelöst sind?

Kostner: Das hat zum einen mit der menschlichen Natur zu tun. Wir neigen dazu, Annahmen, die den eigenen Kenntnisstand bestätigen, erst einmal ohne weiteres Hinterfragen für wahr zu halten. Alles, was davon abweicht, wird sehr kritisch beäugt. Die Kinder der Civil-Rights-Bewegung waren aber auch Opfer ihres eigenen Erfolges. Es gab zunächst echte Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Als diese mehr und mehr wegfielen, ergab sich das Problem der Rechtfertigung der eigenen Anstrengungen. Um seinen Aktivismus weiter betreiben zu können, nahm man in Kauf, kontrafaktisch zu argumentieren. Die Selbsterhöhung hat die Faktenlage ausgestochen. Insofern wird der Rückgang von Rassismus für die Aktivisten zum Problem. Um ihre eigene Wirkmächtigkeit zu erhalten, müssen sie regelmäßig Rassismus diagnostizieren. Daher werden die Debatten immer schriller.

ALIAS: Am Ende wird dann die Wahrheit an sich geleugnet. Zum Beispiel wenn man darauf hinweist, dass viele Argumentationsmuster antirassistischer Aktivisten einer rassistischen Linie folgen. Denn was bleibt zum Beispiel einem BLM-Aktivisten außer dem Verweis auf die weiße Hautfarbe seines Gegners, wenn er einem weißen Zwanzigjährigen vorwirft, dieser trage Schuld an der heutigen Situation der Afro-Amerikaner. Um nun nicht selbst als Rassist dazustehen, bietet sich die Volte an, biologische Unterschiede zwischen Menschen schlechthin zu leugnen, obwohl man diese eben noch genutzt hat, um seinen Gegner zu identifizieren – eben über die genetisch vorgegebene Hautfarbe.

Kostner: Um in so einem Fall überhaupt noch einigermaßen konsistent argumentieren zu können, heißt es dann, dass ohnehin alles nur sozial konstruiert sei.

ALIAS: Steckt hinter alldem so etwas wie ein neuer Puritanismus?

Kostner: Ja, es ist auffällig, dass Länder, die überwiegend protestantisch dominiert waren, stärker von diesem Phänomen betroffen sind. Deutschland liegt dazwischen, deshalb ergeht es uns auch nicht so schlimm wie den US-Amerikanern oder den Briten.

Puritanismus geht heute auch freizügig: Black-Lives-Matter-Demonstrantin in Ottawa (Quelle: David Andrews)

ALIAS: Dieser neue Puritanismus spaltet, unterstützt durch die Algorithmen der sozialen Netzwerke, unsere Gesellschaften immer stärker. Was wäre ein Gegenmittel?

Kostner: Es wird sehr schwer, diese Spaltung zu überwinden, denn sie basiert, wie ich eben schon erwähnt habe, auf der Vorstellung von einer Erbsünde. Es wird etwa behauptet, dass alle gesellschaftlichen Strukturen von Weißen geschaffen wurden und weil das so ist, seien diese Strukturen automatisch in einer Weise gestaltet, die Weiße privilegiert. Alle anderen, so die Vorstellung, können deshalb in der Gesellschaft nicht erfolgreich sein. Und diesen Umstand sieht man durch die statistisch sichtbare Ergebnisungleichheit bestätigt. Die einzige Lösung kann dann für Identitätslinke im Grunde nur darin bestehen, das System zu stürzen. Was dem Extremismus Tür und Tor öffnet.

ALIAS: Ist hier wirklich kein Ausweg in Sicht?

Kostner: Aktuell sehe ich keinen, der sich offensichtlich anbietet. Zu viele Menschen agieren schon als Opfer- oder Schuld-Unternehmer und haben dementsprechend auch etwas zu verlieren, wenn die identitätslinke Läuterungsagenda an Einfluss verlieren sollte.

ALIAS: Gilt das auch für Deutschland?

Kostner: In einem gewissen Rahmen schon. Über die AfD etwa lässt sich nun wirklich einiges Negatives sagen, aber die Überhöhung dieser Partei ist mir unverständlich. Es wurde sofort die AfD als Hauptfeind ausgemacht, als in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund von einem offenbar psychisch gestörten Täter, der rassistische Vorstellungen hatte, erschossen wurden. Stets wird nach einem Gegner gesucht, an dem man sich aufbauen kann. Das ist das eigentlich Schlimme: Man ist auf Gegnerschaft angewiesen. Ich merke das auch an der Reaktion auf meine Arbeit. Von den Rechten heißt es „Ach Gott, schon wieder dieses linke Geschwurbel“, während mir die Linken unterstellen, meine Argumentationsmuster könnten die AfD befördern. Wenn die Eliten sich nicht stärker am Zaum halten, habe ich wenig Hoffnung, dass die Situation sich schnell verbessert.

ALIAS: Wie bewusst ist den Eliten ihr Verhalten?

Kostner: Ich glaube, in der Politik weiß man ganz genau, was man tut. Dort geht es um Macht und man versteht, mit strategischem Kalkül zu handeln. In der Wissenschaft sehe ich viel mehr Überzeugungstäter.

ALIAS: „True Believers“, wie Eric Hoffer sie nannte?

Kostner: In der Tat, und die werden ja auch herangezüchtet. Sie stammen häufig aus einem selbstrekrutierenden System. Das fängt schon mit Besetzungskommissionen an, die darauf achten, dass nur der „eigene Stamm“ eine Chance darauf hat, rekrutiert zu werden. Was zu einem selbstverstärkenden Effekt führt. Aus diesem akademischen Umfeld strömt der Nachwuchs in die NGOs, die Politik und die Medien. In den Medien finden zum Teil schon deutliche Reflexionen statt. Es gibt aber auch Abhängigkeiten von Leserschaften.

Wenn die Eliten sich nicht stärker am Zaum halten, habe ich wenig Hoffnung, dass die Situation sich schnell verbessert.

Sandra Kostner

ALIAS: Wobei online in den Kommentarspalten doch häufig Meinungen vertreten werden, die scharf von den Stoßrichtungen der Artikel abweichen.

Kostner: Es gibt hervorragende journalistische Texte, die ich mit großem Genuss lese – trotzdem finde ich die Leserkommentare oft spannender, und zwar auch wegen der Weise, mit der argumentiert wird. Allein durch die Kommentare entsteht eine gewisse Transparenz. Was in der Wissenschaft passiert, ist viel intransparenter. Ich werde oft gefragt, wo im akademischen Bereich denn die Einschränkungen seien. Es gäbe ja nur ein paar Fälle, in denen versucht wurde, jemanden einzuschränken, so wie es etwa bei Susanne Schröter im Zuge der sogenannten Kopftuchkonferenz geschehen ist. Das Problem besteht aber darin, dass die eigentlichen Einschränkungen, die zu einer Verengung des Meinungskorridors führen, unter dem Radar geschehen – durch Konformitätsdruck in einem System, das 83 Prozent seiner Wissenschaftler befristet beschäftigt. Es ist schwierig, überhaupt etwas Abweichendes publiziert zu bekommen, weil nicht nur in den Fachzeitschriften, sondern auch in den Verlagen Gatekeeper sitzen. Die Kontroverse um Monika Marons Rausschmiss beim Fischer-Verlag ist ja nur bekannt geworden, weil Maron eine prominente Schriftstellerin ist. Es gibt aber nun mal viele Autoren, die nicht ansatzweise so bekannt sind.

ALIAS: Damit wären wir wieder beim Ausgang unseres Gesprächs, dem Schaffen von Öffentlichkeit.

Kostner: Die Öffentlichkeit muss zunächst einmal wissen, was in ihrem Land passiert, denn nur dann kann sie sich eine informierte Meinung bilden und eine Gegenbewegung aufbauen. Tatsächlich weicht die öffentliche Meinung ja oft sehr stark von den ideologischen Positionen der Eliten ab. Es gibt eine Spaltung zwischen den Personen in den Schlüsselbereichen und der Bevölkerung. Die breite Masse versteht, dass vieler der Agenden, die innerhalb der Eliten ausgehandelt werden, gegen sie gerichtet sind und das Land spalten. Es ist zu bequem, sich auf andere zu verlassen: Ich glaube, die Individuen müssen sich selbst aktivieren.

ALIAS: Dazu gehört Mut.

Kostner: Richtig, aber immer weniger, je mehr Menschen sich trauen, etwas zu unternehmen.


Interview: Florian Friedman

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