Über uns (und euch)

Was soll der Unfug? Ein paar Antworten und Kränkungen.

Mündigkeit circa 1940 im besetzten Norwegen: Zwei Damen sagen „FCK NZS“, als so etwas noch Courage erforderte (Foto: Riksarkivet)


ALIAS ist ein Magazin für Kultur, Philosophie, Reportagen, Wissenschaft und Quatsch. Hier soll der Gedanke zählen, nicht die Person. Im Zweifel – und dem Wissen, dass wir uns alle schon mit Ketchup bekleckert haben – ziehen wir das schlüssige Argument der unbefleckten Identität vor.

Nun zu euch.

Der Gedanke schmerzt, aber es ist an der Zeit, erwachsen zu werden und einzusehen, dass die Welt auf eure Empfindungen verzichten kann. Eure Gefühle interessieren uns nicht. Ihr wisst, wer ihr seid, und vielleicht ahnt ihr sogar, warum wir euch hier duzen.

Haltet euch gern für Mann, Frau oder einen Kühlschrank aus Kuala Lumpur, der sich im Hohlraum eines Heizstrahlers aus Heidenheim gefangen fühlt. Alles fein. Eure Haut ist weiß, schwarz, gelb oder in sämtlichen Farben des Regenbogens getüpfelt? Daumen hoch. Aber wenn ihr Anerkennung von uns wollt, müsst ihr mehr leisten, als etwas zu sein, das Mutter Natur bei eurer Geburt springen lassen hat.

Wir klatschen erst, wenn ihr abliefert. Bis dahin halten wir es mit Groucho Marx: „Kreuzt eine schwarze Katze deinen Weg, dann bedeutet das, dass dieses Tier irgendwohin geht.“ Fakten scheren sich nicht um eure Gefühle. Sie bleiben auch bestehen, wenn ihr versucht, sie aus der Welt zu wimmern. Realität ist King.

Und bevor Fragen über unsere Gesinnung aufkommen – unsere politischen Ansichten lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Wir wollen in Ruhe gelassen werden.

„Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“, lesen wir bei Sartre und stimmen zu. Aber sich in alle Richtungen fallen lassen zu können, reicht leider nicht. Wer die Welt retten und dabei mehr sein will als Plastikmüll, den die Meeresströmungen mal hier, mal dort hin treiben, muss Verantwortung übernehmen – und die ist ohne Mut nicht zu haben.

Wir sind das Plastikbesteck an eurer Kehle. Kommt uns mit Argumenten, nicht mit Heulkrämpfen. Unmündigkeit ist für Pussys. Steckt ein und haltet durch. Die gute Nachricht: Dann dürft ihr auch austeilen.

Wir glauben, sich für etwas gerade zu machen, heißt nicht, sein Facebook-Profilbild einzufärben. Ihr signalisiert eure Tugendhaftigkeit in den sozialen Medien und wollt rein ins Kollektiv wie früher in die Großraumdisko. Wir erkennen es an eurer guten Laune, wenn ihr gegen etwas auf die Straße zieht, von dem ihr behauptet, es mache euch wütend. Lange nachdem die Revolution gelaufen ist, erklimmt ihr die Barrikaden und bejubelt euch für euren Mut. Wir weigern uns, in Loblieder für Menschen einzustimmen, die nur mit ihrer Meinung prassen, wenn sie sich am Rockzipfel der breiten Masse wissen. Wir wollen Hass ernten.

Ihr signalisiert eure Tugendhaftigkeit in den sozialen Medien und wollt rein ins Kollektiv wie früher in die Großraumdisko.

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Meinungsfreiheit ist nicht wesentlich für offene Gesellschaften, weil sie es uns erlaubt, ungeschoren darüber zu streiten, ob Kendrick Lamar besser rappt als Eminem. Meinungsfreiheit soll da greifen, wo es wehtut. Unsere Überzeugung ist euer gebrochenes Herz; euer Urteil unser verletztes Gefühl. Es schmerzt, in seiner Identität angegriffen zu werden. Immer noch besser, als auf dem Scheiterhaufen zu lodern, finden wir. Echter Mut bedeutet, mit dem Risiko zu leben, verletzt und ausgegrenzt zu werden.

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“ – bevor dieser Satz es ins deutsche Grundgesetz schaffte, musste in Europa viele Jahrhunderte Blut fließen. Wer schon Worte für Gewalt hält, sollte bedenken, dass die Alternative zum Sprechen traditionell das Schlachten ist.

Im Dreißigjährigen Krieg massakrierten sich unsere Vorfahren nicht, weil es ihnen Mühe machte, sich darauf zu einigen, ob Spitzenkragen schicker als Halskrausen sind, sondern weil es ums identitätsbedrohende Ganze ging: gut oder böse, Wirklichkeit oder Schein, Höllenfeuer oder Seelenheil. Damals eine Frage der Religion, heute des politischen Lagers. Frömmelei und Götzendienst in neuem Outfit. Aber glaubt uns, ihr Hipster, so gut diese neue Klamotte euch auch stehen mag: Eure Panto-Brillen sind die Perlenohrringe von morgen.

Der gute Zweck, meint ihr, heilige eure schauderhaften Mittel. Ihr feiert Gedankenverbote, Sprachregelungen und Hexenjagden als Aufbruch in ein goldenes Zeitalter der Gleichberechtigung, kennt aber nicht den Unterschied zwischen Chancen- und Ergebnisgleichheit.

Auf allen Ebenen gleiche Ergebnisse erzwingen zu wollen, ist der erste Schritt auf dem Weg in eine totalitäre Gewaltherrschaft. Die Vergangenheit zeigt uns, dass am Ende dieses Wegs den Nonkonformisten das Gulag erwartet. Weil aber euer Geschichtsverständnis gerade bis zum Frühstück zurückreicht, seht ihr nicht, wie gründlich ihr eine Geisteshaltung nachspielt, die ihr zu bekämpfen glaubt – und welche Schrecken am Ende dieses Trauerspiels warten. Auch auf euch, denn in eurem Garten Eden wird es vor Wölfen wimmeln.

Wenn ihr Safe Spaces, Deplatforming und Cancel Culture für progressiv haltet, nennt uns gern reaktionär. Vielleicht ist der Fortschritt nur im Rückschritt zu retten. Wir hoffen, es geht auch anders.

Anfang der Fünfzigerjahre hat Ray Bradbury die Misere, in die wir heute geraten, kommen sehen: In seinem Roman „Fahrenheit 451“ ist es nicht die Regierung, die dafür gesorgt hat, dass die Bücher aus dem Leben der Menschen verschwanden. Bei Bradbury gibt die Bevölkerung das Lesen freiwillig auf und fühlt sich dabei weder entrechtet noch zensiert. Kein Big Brother übt von oben Druck aus, um die Menschen zu unterjochen. Aus Faul- und Feigheit entmündigt das Volk sich selbst. Es ist die harmlos wirkende kleine Schwester, die ihren großen Bruder gar nicht braucht, um die Gesellschaft von unten – einen Menschen nach dem anderen – in eine totalitäre Telenovela-Hölle zu verwandeln.

Ray Bradbury hat die Misere, in die wir heute geraten, Anfang der Fünfzigerjahre kommen sehen.

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Neues zu lernen und zu eigenen Ansichten zu gelangen, kann an dunkle Orte führen. Viele Wahrheiten sind kaum zu ertragen. In „Fahrenheit 451“ befreien politische Korrektheit, Technik und Massenkultur das Volk von der Last und dem Schmerz, womöglich mehr zu erkennen, als es eigentlich möchte. Mediale Berieselung wird zur bequemsten Lösung, um nicht das Risiko eingehen zu müssen, mit eigenen Gedanken anzuecken oder gar jemanden zu kränken.

„Je größer die Bevölkerung, umso mehr Minderheiten“, erklärt in Bradburys Roman Captain Beatty dem unfreiwilligen Helden Guy Montag. „Sieh dich vor, dass du den Hundefreunden nicht zu nahe trittst oder den Katzenfreunden, den Ärzten, Juristen, Geschäftsführern, den Mormonen, Baptisten, Quäkern, den hier geborenen Chinesen, Schweden, Italienern, Deutschen, Iren, den Bürgern von Texas oder Brooklyn, von Oregon oder Mexiko … Je größer der Markt, Montag, umso weniger darf man sich auf umstrittene Fragen einlassen, merk dir das!“

Rund sechzig Jahre nach der ersten Auflage von „Fahrenheit 451“ halten Verlage es für nötig, zum Wohle von Minderheiten Sprachkünstler wie Mark Twain umzuschreiben. Smartphone-Junkies landen reihenweise in der Leitplanke und eine moralische Panik jagt die nächste. Wer hätte gedacht, dass Bradbury prophetischer schreibt als Orwell?

Und hier müssen wir nun zugeben, dass wir gelogen haben. Ihr habt es vermutlich weiter oben bereits geahnt: Wir wünschen uns politisch mehr, als in Ruhe gelassen zu werden. Wir wollen mündig sein.

Anders als Freiheit ist Mündigkeit nicht nur Bedingung und Rahmen. Sie formt den Menschen und kann nicht einfach gewährt werden. Sie setzt Anstrengung und Mut voraus. Mündigkeit muss man sich nehmen. Dabei läuft der Mündige immer Gefahr, andere zu kränken. Aber Ohrfeigen, die verbal verpasst werden, lassen sich wegstecken. Noch leichter, wenn man nicht in Feindbildern denkt.

Vergesst euren Groll aufs rechte oder linke Lager. Stammesdenken hat im 21. Jahrhundert nichts verloren. Die Zukunft gehört, sollte es sie geben, einer neuen Mitte. Wenn ihr unbedingt einen Gegner braucht, unterscheidet zwischen solchen Menschen, die sich mündige Bürger wünschen, und jenen, die meinen, Bevormundung sei der Schlüssel zu fast allem. Letztere gibt es links wie rechts in rauen Mengen. Der Staat ist aber für unser Wohl geschaffen, nicht wir für seines – und nur mündig lebt es sich in ihm nicht entfremdet.

Wenn es einen Gedanken gibt, der sich durch die Texte von ALIAS ziehen soll, dann ist es dieser: Wir halten Vernunft, Kreativität und Kritik für Grundpfeiler, auf die eine offene Gesellschaft nicht verzichten kann. Erst durch ihr Zusammenspiel ist echter Fortschritt möglich, und nur mündige Menschen können die Bedingungen hierfür schaffen.

Wir trauen euch zu, andere Meinungen zu ertragen, längere Gedankengänge nachzuvollziehen und eigene Ansichten zu entwickeln. ALIAS soll ein Ort sein, an dem Unterschiede und Streit als Chance begriffen werden. Wir glauben, dass es keinen Fortschritt ohne Reibung gibt, doch auch keine Reibung ohne Berührungspunkte.

Wer hasst, ist frei, aber wir können auch Freunde werden. Und jetzt verpisst euch.