„Musik ist eine unmittelbare Empfindung“

Auf seinem Album „Unspoken Words“ erkundet der britische Techno-Musiker und Bioinformatiker Max Cooper Kommunikationsformen jenseits der Sprache. Ein Interview über Körperillusionen, das Unmittelbare von Musik und die Frage, ob Songs als universelle Computer fungieren können.

ALIAS: Max, eines deiner neuen Stücke heißt „Pulse At The Centre Of Being“. Als jemand, der meditiert, behaupte ich, die Erfahrung zu besitzen, dass es so etwas wie ein Zentrum des Seins gar nicht gibt. Worauf beziehst du dich mit deinem Titel?

Max Cooper: Eine wunderbare Frage! Der Titel dieses Stücks geht auf die Arbeit des Neurowissenschaftlers Henrik Ehrsson zurück, der einige faszinierende Experimente durchgeführt hat. Wenn man an seinen Studien teilnimmt, kann man sich etwa über ein Virtual-Reality-Headset durch eine Kamera beobachten, die einen von hinten filmt. Man sieht dann entweder einen Stab, der auf den eigenen Körper klopft, den man von außen betrachtet, oder man sieht einen Stab, der eine Position außerhalb des realen Körpers berührt – während heimlich an die gleiche Stelle des echten Körpers geklopft wird, die aber über das Virtual-Reality-Bild nicht sichtbar ist. Dabei kommt es zu folgendem Phänomen: Es fühlt sich für den Probanden entweder so an, dass er in seinem echten Körper existiert, oder er hat das Gefühl, dass er sich außerhalb seines wirklichen Körpers befindet – also im leeren Raum. Es scheint, dass unser Gefühl, es gebe ein Zentrum des Seins, tatsächlich eine Illusion darstellt. Vielleicht trägt das dazu bei, unsere beiden Perspektiven anzunähern?

ALIAS: Ob es dieses Zentrum nun gibt oder nicht – wo wäre es verortet?

Max Cooper: Ich beziehe mich mit dem Titel auf die wahrgenommene, aber illusorische Position eines Gefühlszentrums in der Brust. Im Gegensatz zum – ebenfalls bloß imaginären – Zentrum der Wahrnehmung von zum Beispiel visuellen Reizen, die hinter den Augen zu liegen scheinen. Aber auch von Gerüchen in der Nase oder dem Atmen als eine im Grunde seltsame Erfahrung, Luft auf magische Weise von der Position hinter unserer Nase oder unserem Mund in die Nase und den Mund bewegen zu können. In Wirklichkeit geschieht das ja über Muskeln im Rumpf. Die meisten dieser Illusionen, die zum Menschsein gehören, scheinen die Orte der Sinnesorgane mit den Orten der Wahrnehmung zu verknüpfen. Wir hören ja auch so, als ob dies hinter den Ohren geschähe. Aber für unser rein emotionales Erleben fühlt es sich an, als säße das alles in unserem Schwerpunkt, dem Zentrum unseres wahrgenommenen Selbst. Dieser Gefühlskern ist das, was Musik für mich am direktesten zu repräsentieren scheint, und was „Pulse At The Centre Of Being“ so unmittelbar wie möglich einfangen soll.

Pulse At The Centre Of Being

ALIAS: Gehört das zu den Kommunikationsformen jenseits der Sprache, denen du dich auf „Unspoken Words“ widmest?
Max Cooper: Ja, denn wenn ich eine Akkordfolge höre, kann sie direkt Gefühle auslösen, ohne dass Worte nötig wären. Sie dient als Kommunikationsmittel, das eine direktere Verbindung zur tatsächlichen Erfahrung, ein Mensch zu sein, herstellt. Diesen zentralen Puls des Fühlens setze ich in dem Song als einfache, gefühlsbetonte Akkordfolge mit minimaler Ausschmückung um. Aber angesichts der Tatsache, dass jede Positionsangabe, die man als „zentral“ bezeichnet, illusorisch ist und Menschen außerdem unterschiedlich empfinden, funktioniert dieser Titel sicher nicht für jeden. Vor allem dann nicht, wenn jemand durch Meditation in der Lage ist, der Erfahrung körperlicher Einschränkungen zu entfliehen.

ALIAS: Du hast den Song in seiner Instrumentierung sehr einfach gehalten.
Max Cooper: Das war der Grundgedanke. Es sollte eben der zentrale Gefühlsaspekt des Seins im Vordergrund stehen, während komplexere Gedanken und Analysen im Hintergrund bleiben. Die gleichen Prinzipien wurden bei dem begleitenden Videoprojekt angewandt, das wir bald veröffentlichen.

ALIAS: „Unspoken Words“ wird von 13 Kurzfilmen ergänzt, die von unterschiedlichen visuellen Künstlern stammen …

Max Cooper: Genau, und die Künstlerin Tsz-Wing Ho hat für jedes Bild des Videos zu „Pulse At The Centre Of Being“ von Hand eine Zeichnung angefertigt. Das soll ein Gefühl der Einfachheit erzeugen und dem Ganzen einen menschlichen Touch verleihen. Dafür brauchte es eine echte Künstlerin. Im Gegensatz etwa zu dem Video für das Stück „Ascent“. Hier habe ich mit dem Mathematiker und Programmierer Martin Krzywinski zusammengearbeitet. Wir unternahmen den Versuch, einen aufsteigenden transzendentalen Vorgang in musikalischer Form zu erfassen. Die Musik entstand aus einer Installation namens „Transcendence“ mit Salvador Breed und Martin Krzywinski. Für das visuelle Element zum Song wollte ich dasselbe Thema aufgreifen und die Ziffern einer transzendentalen Zahl verwenden, die auf Oberflächen in einer immer größer werdenden Dimensionalität des Raums abgebildet werden.

Foto: Alex Kozobolis


ALIAS: Für die Single „Exotic Contents“ hast du dich dann mit Xander Steenbrugge, einem Spezialisten für maschinelles Lernen, zusammengetan.

Max Cooper: Ja, ich wandte mich an Xander mit der Frage, wie wir die Schriften von Ludwig Wittgenstein in ein visuelles Projekt übertragen könnten. Wittgenstein war ein Philosoph, der sich mit den Grenzen der Sprache auseinandergesetzt hat. Da bestand eine natürliche Verbindung zur Idee des Albums, dem Kommunizieren jenseits der Sprache. Xander schuf ein System, das mithilfe der Machine-Learning-Tools CLIP und VQGAN Sätze aus Wittgensteins Schriften in bewegte Bilder umwandelte. Das Ergebnis ist eine surreale Verschmelzung der Grenzen zwischen Symbolik und Realität – und eine fantastische Rekontextualisierung des Quellenmaterials, von dem ich zugeben muss, dass ich es in seiner ursprünglichen Form nicht richtig verstehe. Ich finde es spannend, wie sich künstliche Intelligenz auf eine Weise nutzen lässt, um Ideen in Formen zu präsentieren, die wir leichter aufnehmen können.

ALIAS: Was ist für dich der auffälligste Unterschied zwischen der visuellen Arbeit und deiner Tätigkeit als Musiker?

Max Cooper: Musik ist ursprünglicher. Sie ist eine unmittelbare Empfindung, die sich manchmal, wenn man sie einer weiteren Analyse unterzieht, eher verschlechtert. Visuelle Kunst ist dagegen voller buchstäblicher Details, über die man endlos nachdenken kann. Vielleicht würde ein Maler das anders sehen, ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass man in bewegten Bildern viel mehr wahrnehmbare Informationen unterbringen kann als in hörbarem Schall.

Exotic Contents

ALIAS: Du denkst viel über die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine nach. Was betrachtest du als bedeutendstes Merkmal des Menschseins im Jahr 2022?

Max Cooper: Die Debatte über Körperillusionen ist sehr aktuell. Offenbar bewegen wir uns, angetrieben durch die Technologie, immer mehr in Richtung nicht-gegenwärtiger, nicht-lokaler Lebensformen. Im Guten wie im Schlechten. Da sind Achtsamkeits- und Erdungstechniken umso wichtiger. Wir alle müssen lernen, mit dem schnellen Wandel und der Informationsflut umzugehen. Dafür bedarf es nicht nur guter Kenntnisse in Statistik, sondern auch allgemeiner Unterweisungen in Meditation.

ALIAS: Ein etwas älterer Song von dir, der mich noch immer fasziniert, heißt „Rule 110“. Das Stück bezieht sich auf einen sogenannten zellulären Automaten, der vom Team des Physikers Stephen Wolfram untersucht wurde. Kurz als Einschub für unsere Leser: Bei zellulären Automaten handelt es sich um Gruppen von Einheiten in einem mathematischen Modell, die einfachen Regeln unterliegen und durch Replikation erstaunlich komplexe Muster erzeugen können.

Max Cooper: Schon seit meinem ersten audiovisuellen Album beschäftigt mich Emergenz. Wolframs zelluläre Automaten sind großartige Beispiele für einfache Regeln, die zu unerwarteten Ergebnissen führen. Wobei Regel 110 die erste Regel ist, die ein Turing-vollständiges System hervorbringt. Das bedeutet, dass man dieses einfache, wachsende System aus schwarzen und weißen Blöcken verwenden kann, um beliebige Berechnungen durchzuführen und zu kodieren – es handelt sich um einen universellen Computer. Nicht, dass es im Alltag praktisch wäre, etwas über diese Regel zu berechnen, aber es war der einfachste ästhetische Ansatz, den ich finden konnte, um diese Eigenschaft der universellen Berechnung darzustellen.

ALIAS: Es gibt zu dem Song auch ein sehr schönes Video.

Max Cooper: Dafür hat der Programmierer und Künstler Raven Kwok mithilfe von Wolframs System und ein wenig künstlerischer Ausschmückung Bilder erstellt. Meine Musik ist ja gewissermaßen eine Vertonung der Retroästhetik des Block-Universums von zellulären Automaten.

ALIAS: Hat dich Wolframs Arbeit auch anderweitig beeinflusst?

Max Cooper: Die Nachrichten über sein neuestes Hypergraphen-System habe ich zum Beispiel mit großem Interesse verfolgt. Das mag für eure Leser alles obskur und technisch klingen, aber der Punkt hierbei ist, dass sich in den Grundlagen der Natur wunderschöne Kunst verbirgt. Ich liebe es, solche Ideen zu erkunden und nach Projekten zu suchen, die ich unter rein ästhetischen Gesichtspunkten präsentieren kann. Es ist in Ordnung, es dann auch dabei zu belassen. Ich denke nicht, dass Kunst mit obligatorischen Erklärungen einhergehen sollte. Aber für diejenigen, die sich dafür interessieren, sind dann eben auch noch die Ideen hinter den Songs da.

Rule 110

ALIAS: Würde es Sinn ergeben, von einem Turing-vollständigen Song zu sprechen, also von einem Stück Musik, das als universeller Computer dienen könnte?

Max Cooper: Wir hätten die Struktur eines Regel-110-Outputs auf eine musikalische Struktur abbilden können. Dasselbe hätte auch für Regel 30 funktioniert, die eine ähnlich komplexe Dynamik aufweist, für die aber, soweit ich weiß, keine Turing-Vollständigkeit nachgewiesen werden konnte.

ALIAS: Und dann?

Max Cooper: Das Resultat des Ganzen hätte eine Folge von Tonhöhen sein können, die jeweils dem Output des Systems entsprechen. Dann hätten wir versuchen müssen, die Unterschiede zwischen den beiden Songs herauszuhören, um festzustellen, dass zumindest eines der Lieder Turing-Vollständigkeit in einer sinnvollen Weise repräsentiert. Ich vermute, dass beide Stücke gleich schlecht klingen würden – aber jetzt, wo du mich dazu gebracht hast, darüber zu reden, bin ich neugierig geworden, wie das alles klänge.

ALIAS: Es wäre ein reizvoller Ansatz, finde ich.

Max Cooper: Ja, aber ich weigere mich eigentlich, abstrakte Ideen zum Kern meiner musikalischen Arbeit zu machen. Es muss sich schon richtig anfühlen. Das bedeutet, dass ich eher zu Ästhetiken und Ideen komponiere, als ein Mapping-Verfahren für sie zu kreieren. Im Fall von „Rule 110“ gibt es eine klare Ästhetik der zellulären Raster aus schwarzen und weißen Quadraten, wie bei einem alten Computersystem. Und diese Ästhetik hat eine musikalische Entsprechung: die schrillen Gated-Reverb-Snares des frühen Synthie-Pop und dergleichen. Ich versuche, Musik und Bilder in erster Linie aus intuitiven Gründen zu verbinden. Die prozeduralen Aspekte sind zweitrangig. Es geht um das, was sich richtig anfühlt, wenn Musik und Visuelles zusammenspielen.

Max Cooper
Foto: Alex Kozobolis


ALIAS: Glaubst du, dass dir deine wissenschaftliche Arbeit in der Bioinformatik geholfen hat, ein besserer elektronischer Musiker zu sein?

Max Cooper: Sowohl als Bioinformatiker wie auch als elektronischer Musiker sitzt man vor einem Computer und spielt extrem lange mit abstrakten Systemen. Ohne Garantie auf Erfolg. Ich denke, es gibt da eine ganz praktische Art von Gemeinsamkeiten: Bei beiden Beschäftigungen findet man im Laufe seiner Arbeit heraus, wie schwierig der Prozess, dem man sich widmet, sein kann – und trotzdem macht man weiter. Ich muss, wenn ich einen Song schreibe, noch immer darum kämpfen, etwas Sinnvolles zu erschaffen. Die meisten, die anfangen Musik zu komponieren, rechnen damit nicht. Was vermutlich daran liegt, dass wir den Haufen Arbeit, der in einem Lied steckt, vorab nicht wirklich sehen. Das Endprodukt, das man hört, klingt so, als wäre es dem Musiker leicht gefallen. Aber zumindest für mich ist das alles jedes Mal ein hartes Stück Arbeit, denn es ist echt schwer, halbwegs anständige Musik zu machen und halbwegs anständige Forschung zu betreiben. Aber ich liebe die musikalische Plackerei, also bleibe ich dran. Jeder neue Song fühlt sich großartig an und erfüllt mich mit Freude. Ich verliere mich am Anfang im Prozess und werde enthusiastisch, nur um irgendwann meine Hoffnungen zerstört zu sehen, wenn ich feststelle, dass der Song bloß halb so gut ist, wie ich dachte – oder sogar kompletter Müll.

ALIAS: Max, vielen Dank für das Gespräch.


Δ Interview: Florian Friedman

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