Die andere Pandemie

Gad Saad teilt aus: Im ALIAS-Interview spricht der kanadische Evolutionspsychologe über Ideen-Parasiten, seinen Kampf für die Wahrheit und den Standesdünkel vieler Professoren.

Toxoplasma gondii ist ein tückischer Killer. Wenn dieser Einzeller das Gehirn einer Maus befällt, verliert der Nager seine Abneigung gegen den Geruch von Katzen.

Mäuse, die mit Toxoplasma gondii infiziert sind, wagen sich deshalb eher in die Nähe ihrer Fressfeinde und gehen ein höheres Risiko ein, verspeist zu werden. So vervielfacht der Parasit seine Chance, sich zu vermehren, denn Katzen sind die einzigen Wirte, in denen sich Toxoplasma gondii fortpflanzen kann.

In seinem Buch The Parasitic Mind: How Infectious Ideas Are Killing Common Sense vergleicht der Evolutionspsychologe Gad Saad Gehirnparasiten wie Toxoplasma gondii mit Ideen, die den menschlichen Geist befallen und uns an ebenso absurden wie gefährlichen Unsinn glauben lassen.

Herr Saad, Wahrheit und Freiheit liegen vielen Menschen am Herzen. Anders als die meisten Ihrer Kollegen zeigen Sie sich aber auch in der breiten Öffentlichkeit als engagierter Verteidiger solcher Werte – etwa als Gast in der Joe Rogan Experience, einem der weltweit erfolgreichsten Podcasts. Woran liegt es, dass Sie so kampfesmutig sind?
Was uns als Menschen ausmacht, ist ein unentwirrbares Gemisch unserer jeweils einzigartigen Kombination von Genen und unserem Lebensweg. Dass ich, wenn es um Wahrheit und Freiheit geht, so kampfbereit bin, liegt also zu einem großen Teil an demselben Grund, der auch dazu geführt hat, dass ich grüne Augen habe: Ich bin eben so geboren worden. Abgesehen davon spielt aber zum Beispiel auch der Fakt, dass meine Familie aus dem Libanon fliehen musste, weil wir Juden waren, eine große Rolle. Im libanesischen Bürgerkrieg konnte ich sehen, was passiert, wenn eine Gesellschaft im Stammesdenken versinkt …

… und Identitätspolitik in ihrer vollen Konsequenz betrieben wird.
Ja, die extremste Form von Identitätspolitik.

Antisemitismus, der Grund für Ihre Flucht aus dem Libanon, ist ein typischer Fall dessen, was Sie in Ihrem Buch The Parasitic Mind als „Ideen-Pathogen“ beschreiben. Ein anderer nicht-biologischer Krankheitserreger dieser Art, mit dem Sie sich ausgiebig beschäftigen, ist die Vorstellung, dass wir mit einem Geist geboren werden, der gewissermaßen ein unbeschriebenes Blatt darstellt. Sprich: Unsere Persönlichkeit wird, so die Annahme, ausschließlich durch Umwelteinflüsse geformt.
Sich mit einer schlechten Idee anzustecken, ähnelt der Infektion eines Tieres durch einen Gehirnparasiten. Ich behaupte, dass Menschen durch eine Art Krankheitserreger des Geistes angesteckt werden können. Solche infektiösen Vorstellungen, die ich Ideen-Pathogene nenne, sind immer schädlich im Gegensatz zu anderen ansteckenden Bewusstseinsinhalten wie etwa dem Meme, das der Biologe Richard Dawkins beschrieben hat. Eng verwoben mit der Vorstellung, dass wir mit einem leeren Geist geboren werden, ist der sogenannte Sozialkonstruktivismus und der ist eindeutig schädlich. In seiner radikalen Form besagt er, dass so ziemlich alles auf unser soziales Umfeld zurückzuführen ist. Darin liegt eine zwar falsche, aber hoffnungsvolle Botschaft. Sie gibt den Menschen einen Grund, daran zu glauben, dass ihr Kind der nächste Michael Jordan oder Albert Einstein sein könnte. Das sorgt für ein wohliges Gefühl, aber die Realität sieht nun mal so aus, dass unsere Möglichkeiten durch die Biologie begrenzt werden. Wie vielen der Ideen-Pathogene, die ich in meinem Buch bespreche, liegt auch dem Sozialkonstruktivismus ein edler Ansatz zugrunde, aber bei der Verfolgung dieses Ansatzes wird die Wahrheit gemeuchelt.

Sich mit einer schlechten Idee anzustecken, ähnelt der Infektion eines Tieres durch einen Gehirnparasiten.

Gad Saad

Falsche Vorstellungen können für enormes Leiden sorgen. In der Psychiatrie ging man etwa lange davon aus, dass Schizophrenie auf eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung zurückzuführen sei. Als eine Ursache machte man Mütter aus, die keine klare Grenze zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denen ihres Kindes gezogen hatten. Die betroffenen Frauen müssen sich entsetzlich gefühlt haben.
Man nannte das dann schizophrenogene Mutter. In der Psychiatrie ist das Pendel mittlerweile in die komplett andere Richtung geschwungen. Früher wurde diese Krankheit ganz und gar auf umweltbedingte Ursachen zurückgeführt. Heute wissen wir, dass eine pharmakologische Maßnahme die Stimmen im Kopf des Patienten verschwinden lassen kann. Es gilt als unstrittig, dass die Krankheitsursache hier organisch bedingt ist. Allerdings liegt ein Problem jetzt darin, dass fast allem mit Pillen begegnet wird. Ihr Kind ist in der Schule zu aktiv, zeigt also ein Verhalten, das man besonders für Jungen als normal bezeichnen könnte? Die Lösung: Geben Sie ihm Ritalin und behandeln Sie so sein ADHS! Ich denke, wie für die meisten Dinge im Leben, gibt es auch hier einen guten Mittelweg. Pharmakologische Maßnahmen sind wichtig, aber eben auch Gesprächstherapie.

Sie beschäftigen sich vor allem mit Ideen, die von Menschen vertreten werden, die den Kampf für soziale Gerechtigkeit nicht als Ringen um Chancengleichheit sehen, sondern nach Ergebnisgleichheit streben. Im Englischen ist für solche Personen der abwertende Begriff „Social Justice Warrior“ geprägt worden. Wo hat das Weltbild dieser Menschen seinen Ursprung?
Ich denke, dass all diese Ideen-Pathogene im universitären Umfeld entstanden sind. Es braucht – daran erinnere ich immer wieder gern – Intellektuelle, um auf einmalig dumme Ideen zu kommen. Alle Vorstellungen, die ich in meinem Buch kritisiere, sind dadurch verbunden, dass sie mit einem wahren Kern und als nobles Unterfangen begonnen haben, sich dann aber veränderten. Wenn man die Wahrheit vergewaltigen muss, so scheint die Devise nun zu sein, dann ist das halt ein Kollateralschaden, den man für ein höheres Ziel eingeht. Der Feminismus etwa hat als Bewegung begonnen, der es um Chancengleichheit ging – eine tolle Sache. Selbstverständlich sollen Männer und Frauen vor dem Gesetz gleich behandelt werden. Es darf keine institutionelle Frauenfeindlichkeit geben. Und dem würden heute ja auch die meisten Menschen zustimmen.

Worin besteht dann das Problem?
Darin, dass radikale Feministen bei der Verfolgung ihres Ziels die Biologie leugnen. Sie lehnen die Möglichkeit ab, dass Männer und Frauen zwar unterschiedlich, aber dennoch vor dem Gesetz gleich sein könnten. Sie argumentieren letztlich für Ununterscheidbarkeit. In anderen Worten: Männer und Frauen sind, wenn überhaupt, nur aufgrund sozialer Konstruktion verschieden. Es heißt dann: „Dr. Saad, wagen Sie es nicht zu sagen, dass es evolutionäre Gründe gibt, warum Geschlechtsunterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen. Sie müssen ein Nazi sein, wenn Sie das denken.“ Im Zuge der Verfolgung eines ursprünglich hehren Ziels hat sich der Feminismus in eine hässliche Dummheit verwandelt.

Viele der Ideen, von denen Sie sprechen, wurzeln in einem relativistischen Weltbild – in Denkweisen, die sich meines Erachtens bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen und sich über viele Bereiche der westlichen Gesellschaften erstrecken. Nehmen wir die Kunst: 1917 reichte Marcel Duchamp ein signiertes, aber ansonsten handelsübliches Urinal als Beitrag für eine Ausstellung ein. Althergebrachte ästhetische Standards wie etwa Schönheit oder formale Strenge, die zumindest im Ansatz auf Allgemeingültigkeit abzielten, schienen nun ausgedient zu haben.
Sie beziehen sich auf die Postmoderne, die ganz augenfällig ein relativistisches Bezugssystem ist. In einigen Bereichen, in denen dieser Blickwinkel angewandt wird, zum Beispiel in der Kunst, der Architektur oder der Literaturkritik, mag es eine gewisse Berechtigung dafür geben. Aber wenn man diese Perspektive auf die Spitze treibt, kann sie sogar zu noch absurderen Phänomenen führen als bei dem Beispiel, das Sie erwähnen. In The Parasitic Mind erörtere ich den Fall eines Museums, das eine Ausstellung mit unsichtbarer Kunst angekündigt hat. Dazu kann ich nur sagen: Ich freue mich auf mein nächstes Buch, das ich meinem Verleger einfach als Band mit leeren Seiten vorlegen werde. Die Leser sollen dann selbst entscheiden, was drin steht.

Es braucht Intellektuelle, um auf einmalig dumme Ideen zu kommen.

Gad saad

An welchem Punkt wird relativistisches Denken problematisch?
Bereits in der Erkenntnistheorie. Denn philosophisch müssen wir wiederkehrende statistische Regelmäßigkeiten in der Welt annehmen, wenn wir an empirischem Wissen festhalten wollen. Was keineswegs bedeutet, dass in der Wissenschaft Sachverhalte, die man für gegeben angesehen hat, dies auch für alle Zeiten sind. Was vor 300 Jahren für wahr gehalten wurde, hält man heute vielleicht nicht mehr für wahr. Wir haben es mit vorläufigen Wahrheiten zu tun, glauben aber daran, dass Wahrheit an sich existiert. Die Postmoderne geht dagegen davon aus, dass es absolut keine Wahrheiten gibt, denn von Objektivität zu sprechen, setzt angeblich voraus, dass Menschen nicht voreingenommen, nicht an ihre Subjektivität gekettet sind. Postmoderne Denker lehnen auch menschliche Universalien ab. Jede Kultur, so die Behauptung, ist ihre eigene Oase. In dieser Form hat sich die Postmoderne im Laufe der letzten 40, 50 Jahre als akademische Strömung entwickelt. Hauptverantwortlich war hier die, wie ich sie nenne, Dreifaltigkeit der französischen Schwätzer: Jacques Lacan, Michel Foucault und Jacques Derrida.

Ich frage mich, warum dieser philosophische Trend so erfolgreich war und ist. Könnte der Siegeszug postmoderner Ansichten aus einer Angst vor dem Wissen herrühren?
Zumindest aus einer Angst vor der Rigidität, die in der Feststellung liegt, dass etwas entweder wahr ist oder nicht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich habe Mathematik studiert. Wenn es einen Bereich gibt, der völlig unempfindlich gegenüber dem Relativismus ist, dann dieser. Die Mathematik zeigt sich in Identitätsfragen resistent. Die Verteilung der Primzahlen ist die Verteilung der Primzahlen – egal, ob Sie sich nun als Transgender-Person betrachten oder nicht …

Das sehen manche mittlerweile anders.
Da haben Sie Recht. Die Realität wurde durch die Satire eingeholt. Ich denke, es fühlt sich für viele Menschen befreiend an, davon auszugehen, dass absolut nichts rigide ist. Hey, meine Genitalien bestimmen nicht meine Identität – ich bin, was ich fühle! Ideen-Pathogene befreien uns von den lästigen Fesseln, die uns die Wirklichkeit anlegt. Ich will nicht an dieses Ding namens objektive Wahrheit gekettet sein, ich möchte mich von allen biologischen Imperativen befreien – also mache ich mir Ideen zu eigen, die mich jeder Zeit alles sein lassen können. Anders gewendet: Es gibt nur meine Wahrheit.

Was an Arroganz eigentlich kaum zu überbieten ist. Andererseits könnte man auch sagen, dass diese Einstellung dem Individuum eine Menge Verantwortung aufbürdet. Wenn ich, was meine Talente betrifft, bei meiner Geburt ein unbeschriebenes Blatt bin, heißt das doch im Grunde, dass ich mich nur noch mehr anstrengen muss, um das zu erreichen, was ich möchte. Schaffe ich es trotzdem nicht, bin ich ein Versager. Könnte es im Umkehrschluss für viele Menschen nicht eine befreiende Funktion haben, zu sagen: Ich besitze nicht die biologischen Voraussetzungen, um ein Mathematiker oder Profi-Basketballer zu werden – ich mache stattdessen etwas anderes aus meinem Leben.
Es sei denn, man kann als Sozialkonstruktivist die Schuld stets auf Mami abwälzen. Für den radikalen Social Justice Warrior besteht der Grund dafür, warum aus ihm kein Michael Jordan geworden ist, nicht darin, dass er zu klein ist oder nicht hoch genug springen kann. Stattdessen gibt er seiner Umgebung die Schuld für sein Scheitern. Das ist großartig! Es entbindet ihn von aller Verantwortung. Schauen Sie sich die Identitätspolitik an, deren Vertreter mir weißmachen wollen, dass ich nicht zuallererst Gad Saad bin, sondern ein libanesischer Jude. So möchte ich aber nicht von mir denken. Ich bin Gad Saad mit all meinen Qualitäten und all meinen Fehlern. Aus dem identitätspolitischen Blickwinkel sind wir keine Individuen, sondern bloß unbedeutend kleine Teile einer größeren Gruppe. Was das genaue Gegenteil aller Grundsätze des klassischen Liberalismus darstellt, und ich kann kaum glauben, dass der Wahnsinn, dem ich vor mehr als 40 Jahren im Nahen Osten entkommen bin, mich nun im Westen einholt.

Wie sind wir in diese Situation geraten?
Vielleicht ist das alles auch nur ein Zeichen für die Art, wie Menschen im Westen Freizeit konsumieren. Die Leute hier müssen sich nicht um Kriege in ihren Ländern fürchten und leiden keinen Hunger. Also fangen sie an, diesen kompletten Unsinn zu erdichten. Die wenigsten Menschen, denen es mit dem Social-Justice-Warrior-Quatsch ernst ist, kommen aus Somalia oder dem Irak. Leute aus solchen Gegenden haben gesehen, was echte Not bedeutet. Es sind deshalb auch oft Immigranten, die sich am lautesten über diesen Wahnsinn im Westen beschweren. Sie haben einen größeren Teil des Büfetts gesehen, das die Welt an sozialen Systemen zu bieten hat. Und sie können es nicht fassen, dass die Menschen hier mit solcher Undankbarkeit gegenüber den märchenhaften Gesellschaften reagieren, in denen sie leben. Unsere freien Gesellschaften sind eine Anomalie, die es zu verteidigen gilt. Dass wir im Begriff sind, sie einfach zu entsorgen, ist tragisch.

Obacht, ansteckende Ideen: Gad Saads jüngstes Buch „The Parasitic Mind“


Viele scheinen blind gegenüber den Absurditäten, wie sie der Sozialkonstruktivismus und andere relativistische Theorien hervorbringen. Sie sprechen in diesem Zusammenhang vom „Ostrich Parasitic Syndrome“ – einem satirischen Krankheitsbild, das Menschen dazu veranlasst, wie ein Strauß den Kopf in den Sand zu stecken.
Obwohl der Strauß das nicht wirklich tut, ist dieses Tier bekanntlich eine Metapher für einen Menschen geworden, der die Realität ignorieren will. Ich meine damit Leute, die – sobald man versucht, gegen ihre Vorstellungen zu argumentieren – sich die Ohren zuhalten und „La la la“ sagen.

An was für Beispiele denken Sie konkret?
Etwa wenn es im Namen einer bestimmten Religion 36.000 Terroranschläge in über 70 Ländern allein seit 9/11 gegeben hat, man das aber nicht wahrhaben will. Und ich spreche hier von mehr als 70 Staaten, die sich in jeder nur möglichen Weise unterscheiden – in ihrer Landessprache, wirtschaftlich, sozial und politisch. Es spielt auch keine Rolle, dass die Attentäter vor einer Kamera bekennen: „Ich tue dies für meine Religion, und hier sind die 17 Glaubenssätze, die meine Tat rechtfertigen.“ Was macht der am Ostrich-Parasitic Syndrome Leidende? Er sagt: „Nichts davon ist religiös motiviert. Nein, es ist der Klimawandel, der dahinter steckt, ein Mangel an Sonnenkollektoren, die zionistische Besatzung Palästinas, die Folgen des britischen Kolonialismus oder schlicht die Wut des von der Gesellschaft ignorierten Einzelgängers.“

Wie wollen Sie den Kopf dieser Leute wieder aus dem Sand bekommen?
Es gibt da ein erkenntnistheoretisches Werkzeug, das in solchen Fällen Erfolg verspricht: nomologische Netzwerke kumulativer Evidenz. Das ist ein Zungenbrecher, ich weiß, aber lassen Sie mich kurz erklären, was damit gemeint ist. Denken Sie an Charles Darwin, der im 19. Jahrhundert Daten sammelte, um seine Evolutionstheorie zu stützen. Darwin bekam seine Daten nicht von 30 Studenten an der Universität Frankfurt. Er häufte über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten Informationen an, die aus vielen verschiedenen Disziplinen stammten – aus der Paläontologie, der Ökologie, der Tierzucht oder der vergleichenden Morphologie. Alles zusammengenommen wurde daraus ein unanfechtbarer Tsunami an Beweisen. Ich plädiere für einen ähnlichen erkenntnistheoretischen Prozess.

Können Sie das an einem weiteren Beispiel erläutern?
Nehmen wir an, ich möchte Ihnen beweisen, dass Spielzeugvorlieben nicht sozial konstruiert sind. Ich möchte erstens meinen Standpunkt belegen, dass der Grund, warum Jungen bestimmte Spielsachen bevorzugen und Mädchen andere, nichts damit zu tun hat, dass Mama und Papa sexistische Schweine sind. Zweitens sage ich, dass hierfür biologische Ursachen existieren. Um nun zu einem Tsunami an Beweisen zu gelangen, konstruiere ich ein Netzwerk aus ganz unterschiedlichen Datenquellen. Ich werde zum Beispiel Daten von Kindern sammeln, die zu jung sind, um schon sozialisiert worden zu sein, aber trotzdem diese geschlechtsspezifischen Vorlieben aufweisen. Doch dabei belasse ich es nicht, sondern führe auch Primatenarten wie die Südlichen Grünmeerkatzen, Rhesusaffen oder Schimpansen an, deren Babys ähnliche geschlechtsspezifische Spielzeugpräferenzen aufweisen. Wollen wir nun behaupten, dass Affen-Mama und Affen-Papa sexistisch und patriarchalisch waren? Außerdem sammle ich Daten aus verschiedenen Kulturen und bis in Zeiträume, die 2.500 Jahre zurückliegen. Schon auf Grabmälern aus dem antiken Griechenland finden sich Darstellungen, auf denen Jungen abgebildet sind, die mit einem Rad oder einem Ball spielen, während die Mädchen mit Puppen gezeigt werden.

Und trotzdem glaube ich, dass sich selbst von einem solchen Tsunami an Daten längst nicht jeder überzeugen lässt.
Ein Problem bleibt auch bei Netzwerken kumulativer Evidenz bestehen: Mein Gesprächspartner muss überhaupt offen für Beweise sein. Wenn mein Gegenüber mir aber gestattet, ihm die Finger aus den Ohren zu nehmen, damit er mich hören kann, sind wir auf einem guten Weg zur Wahrheit.

In den Universitäten stelle ich mir das Sammeln von Belegen aus verschiedenen Disziplinen schwierig vor. Es wird dort heute doch vor allem auf Spezialisierung gesetzt.
Richtig, und deshalb plädiere ich dafür, dass die Professoren sich aus ihren Nischen herausbewegen. Zum einen sollte man sich nicht gezwungen fühlen, nur im eigenen Fachgebiet zu publizieren. Was aber riskant ist. Ich bin in meiner Karriere tatsächlich für meine interdisziplinäre Forschung abgestraft worden, weil ich in so unterschiedlichen Bereichen wie der Medizin, der Ökonomie, der Psychologie und der Evolutionstheorie publiziert habe. Das wird nicht gern gesehen. Am besten veröffentlicht man in seiner engen Nische und hält ansonsten die Klappe. Ich finde so etwas aber furchtbar und denke auch, dass man als Professor nicht nur mit anderen Akademikern kommunizieren sollte. Viele Professoren halten sich für die gesalbte Elite und sind stolz auf ihren Elfenbeinturm. Ich sehe das ganz anders: Wenn ich Ideen habe, von denen ich denke, dass sie es wert sind, Verbreitung zu finden, dann sollte ich sie eben nicht nur innerhalb meiner disziplinären Grenzen kommunizieren. Deshalb gehe ich in Joe Rogans Show oder spreche mit dem ALIAS-Magazin aus Deutschland. Sich keine elitären Beschränkungen aufzuerlegen, ist entscheidend dafür, dass die akademische Welt sich aus ihrer derzeitigen Verblödung befreit.

Könnte eine Maßnahme, um zu mehr Rationalität in Debatten zu gelangen, vielleicht auch darin bestehen, Vorlesungen in Wissenschaftstheorie für Studenten verpflichtend zu machen?
Das halte ich für einen guten Weg. Die Wissenschaftstheorie ist ein Mechanismus, der uns dabei hilft zu entscheiden, was wahr ist und was nicht. Vielen Menschen ist nicht einmal bewusst, dass es zwei Möglichkeiten gibt, in Bezug auf Wahrheit zu unterscheiden. Zum einen sind da die axiomatischen Wahrheiten, wie man sie aus der Mathematik und Logik kennt. Denken sie etwa an das Transitivitätsaxiom, das besagt: Wenn ich Auto A gegenüber Auto B bevorzuge, und ich Auto B gegenüber Auto C bevorzuge, dann muss ich Auto A auch gegenüber Auto C bevorzugen. Daneben existieren empirische Wahrheiten: Sind Männer größer als Frauen? Nun, ich weiß es nicht, mal sehen, welche Daten ich sammeln müsste, um das zu testen. Ich könnte die Größe von 100 Männern und 100 Frauen messen und einen statistischen Inferenztest nutzen, um festzustellen, ob der Mittelwert der einen Gruppe größer ist als der Mittelwert der anderen.

Ist großen Teilen unserer Bevölkerungen der Sinn dafür verloren gegangen, was für ein Geschenk die Wissenschaft ist?
Da liegen sie nicht falsch. Und das ist traurig, denn die wissenschaftliche Methode ist die beste Idee, die wir je hatten. Wissenschaft emanzipiert. Sie macht es möglich, dass wir uns in der Erkenntnis von Vorurteilen und unserer persönlichen Identität lösen. Sie ist wahrhaft erkenntnistheoretisch demokratisch, weil einer ihrer Grundsätze besagt, dass jeder zur Wahrheit gelangen kann. Es gibt heute aber eine Bewegung, die ich als antiwissenschaftliche Erkenntnistheorie bezeichne. Eine ihrer Prämissen ist die Vorstellung, dass verschiedene kulturelle Wege des Wissens existieren. Was Quatsch ist. Nein, es gibt keine indigene Art des Wissens. Es gibt keine libanesisch-jüdische Art des Wissens und auch keine deutsche. Vor 50 Jahren hätte man solche relativistischen Meinungen noch als Rassismus angesehen. Aber jetzt, unter dem Deckmantel progressiver Politik, reden wir darüber, wie man es wagen kann, zu behaupten, dass wir die Natur nur durch die wissenschaftliche Methode studieren können. Was ist mit den Eingeborenen? Es heißt, die haben ihren eigenen Weg zur Wahrheit. Nein, haben sie nicht. Was sie haben, ist inhaltlich spezifisches Wissen über die Flora und die Fauna des Ökosystems, in dem sie vielleicht schon seit 10.000 Jahren leben. Ja, wir sollten dieses Wissen nutzen. Aber wenn es um die Beurteilung von Hypothesen geht, gibt es nur die wissenschaftliche Methode.

Der Wahnsinn, dem ich vor mehr als 40 Jahren im Nahen Osten entkommen bin, holt mich nun im Westen ein.

gad saad

Der amerikanische Manager und Kulturkritiker Eric Weinstein sagt, wir sollten neben dem kritischen Denken auch das kritische Fühlen einüben – also lernen, unsere Emotionen zu überprüfen und zu schauen, ob sie uns den richtigen Weg weisen.
Es ist eine falsche Dichotomie – also eine falsche zweigliedrige Einteilung –, das Denken gegen das Fühlen auszuspielen. Es geht zum Beispiel nicht darum, dass wir ein denkendes Tier oder ein fühlendes Tier sind. Es geht darum, dass wir wissen müssen, in welcher Situation wir am besten welches System aktivieren. Wenn ich nachts eine dunkle Gasse entlanggehe und ich sehe dort vier junge Männer herumlungern, dann schlägt mein Herz schneller, vielleicht steigt mein Blutdruck – eine angstbasierte Reaktion. Das ist, evolutionär betrachtet, absolut adaptiv. Es ergibt Sinn, dass mein affektives System in diesem Fall ausgelöst wird. Aber wenn ich versuche, ein Rechenproblem zu lösen, wird mir eine affektive Aktivierung nicht helfen. Ich muss stattdessen mein kognitives System triggern. Bedauerlicherweise verlassen wir uns bei zu vielen inhaltlichen Debatten auf unsere Affekte. Im Arabischen sagt man dazu: „Vom Geruch des Weinkorkens betrunken werden.“

Und dann wird nur noch – wie es Betrunkene eben tun – in schwarz und weiß gedacht.
In meinem Buch bezeichne ich das als „erkenntnistheoretische Dichotomanie“ – den Wahn, immer alles in zwei Ideen aufteilen zu müssen, die gegeneinander ausgespielt werden. Das läuft dann so: Entweder sind wir denkende oder fühlende Tiere; es ist entweder die genetische Anlage oder die Umwelt, die unsere Persönlichkeit prägt und so weiter. In Fällen wie diesen sind Dichotomien schlicht eine falsche Sichtweise der Dinge. Ein anderes Beispiel: Ich bin ein Produkt der Einwanderungspolitik Kanadas. Wäre dieses Land nicht ein Ort, der offen für Einwanderer ist, hätte mein Leben ganz anders verlaufen können. Vielleicht wäre ich längst tot. Ich weiß eine humane und empathische Einwanderungspolitik zu schätzen. Aber das bedeutet nicht, dass ich eine selbstmörderische Form von orgiastischer Empathie gutheißen muss. Es bedeutet auch nicht, dass das, was Sie in Deutschland mit Ihrer sehr verständnisvollen und empathischen Frau Merkel 2015 gemacht haben, richtig war. Jemand, der Einwanderung positiv sieht, muss nicht eine Politik bejahen, die aufgrund generationenübergreifender Schuldgefühle Sachverhalte geschaffen hat, die für die Juden im gleichen Ergebnis resultieren könnten wie im Zweiten Weltkrieg. Denn massenhaft Menschen aus Ländern aufzunehmen, die entlang institutionalisierten Judenhasses organisiert sind, ist vielleicht nicht der Weg, den Deutschland gehen sollte, wenn es sein Gewissen entlasten möchte.

Vielleicht sollten wir uns nach diesen schweren Themen etwas leichte Unterhaltung zum Abschluss unseres Gesprächs gönnen: Welchen Social Justice Warrior mögen Sie?
Da bin ich im Moment überfragt (lacht). Können Sie mir eine Liste vorlegen?

Wie wäre es mit Bill Nye? Dieser beliebte amerikanische Fernsehmoderator erregte vor einiger Zeit Ihre Aufmerksamkeit, weil er eine Verbindung gezogen hatte zwischen dem durch Klimaveränderungen größeren Wassermangel in der arabischen Welt und dem aus dieser Region stammenden Terrorismus.
Ja, Bill Nye wirkt auf mich nicht wirklich diabolisch. Echte Ideologen sind das Problem. Ich meine Greta Thunbergs, die anders als dieses Mädchen wirkliche politische Macht ausüben. Insofern: Ihr Vorschlag ist gut – Bill Nye könnte mein Lieblingsidiot sein.


Zur Person: Gad Saad

Gad Saad ist Professor für Marketing an der John Molson School of Business (Concordia University, Montreal), wo er den Research Chair in Evolutionary Behavioural Sciences and Darwinian Consumption innehat. Neben seiner akademischen Karriere betreibt der Evolutionspsychologe unter anderem den populären YouTube-Kanal The Saad Truth und schreibt seit vielen Jahren eine Kolumne für die amerikanische Zeitschrift Psychology Today.

In seinem jüngsten Buch The Parasitic Mind attestiert Saad dem Westen eine „verheerende Pandemie“, die den Geist befällt und „die Fähigkeit der Menschen zum rationalen Denken zerstört“. Im Gegensatz zu biologischen Krankheitserregern wie dem COVID-19-Pathogen besteht der Übeltäter hier, so Saad, „aus einer Ansammlung schlechter Ideen, die in den Universitäten entstanden sind und unsere Begriffe von Vernunft, Freiheit und der Würde des Individuums zerstören“.

(Foto: Sergio Veranes)


Interview: Florian Friedman

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