Selbstverteidigungskurse boomen. Doch ergibt es überhaupt Sinn, als Normalbürger für den Gewaltfall zu trainieren? Kampfsport-Experte Michel Ruge meint: nein.
ALIAS: Michel, du sagst, es muss in der Selbstverteidigungsszene ein Umdenken stattfinden. Weshalb?
Michel Ruge: Aus mehreren Gründen. Selbstverteidigung ist spätestens seit den 1990ern ein Milliardengeschäft. Anbieter und Schulen müssen einen ständigen Spagat bewältigen: Zum einen geht es darum, Menschen etwas beizubringen, zum anderen muss gleichzeitig eine stetig zahlende Gefolgschaft herangezüchtet werden.
ALIAS: Was soll daran verwerflich sein?
Michel Ruge: Es ist so ein System entstanden, das dem Strukturvertrieb ähnelt.
ALIAS: … also einem hierarchisch aufgebauten Direktvertrieb. Verkäufer bieten ihre Produkte hier oft im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis an, der ständig erweitert werden muss, damit das System funktioniert.
Michel Ruge: Es geht dann nicht mehr darum, effiziente Ideen zur Selbstverteidigung zu vermitteln, sondern es soll möglichst viel Umsatz gemacht werden. Mit dem Ergebnis, dass aus Schülern Lehrer werden, die, ohne profunde Erfahrung, Trainingskonzepte weitergeben, die in der Realität keinen Bestand haben. Sie basieren auf Bewegungsabläufen, die im geschützten Raum funktionieren, häufig in einer Atmosphäre, in der devote Schüler sich ihren profilneurotischen Trainern unterordnen, um deren Selbstwertgefühl nicht zu verletzen. Solche Lehrer nutzen jede Trainingseinheit, um zu zeigen, was für großartige Kämpfer sie sind. In einem solchen Szenario kann eine intensive und wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstverteidigung überhaupt nicht stattfinden. Wenn Schüler mit klugen Ideen und wachsenden Fähigkeiten im Sparring durch Härte bestraft werden, sobald das Ego des Ausbilders wackelt, entgleist die ganze Sache und aus dem Training wird ein seltsam befremdliches Psychospielchen.
Ein Duell im sportlichen Ring ist etwas ganz anderes als das Ringen um Unversehrtheit, wenn man angegriffen wird.
Michel Ruge
ALIAS: Kannst du das etwas ausführen?
Michel Ruge: Beide Szenarien speisen sich aus der Angst der Lehrer – sowohl das künstliche in die Länge ziehen von Wissensvermittlung als auch das Kleinhalten der Fähigkeiten von Schülern. Der eine Lehrer hat Angst um seine wirtschaftliche Existenz und der dominante Lehrer-Typ, der in einer Art fortwährenden Adoleszenz gefangen ist, trägt seine Selbstzweifel und Ängste ins Training. In beiden Fällen leiden die Schüler.
ALIAS: Das heißt, wer auf der Suche nach einem guten Selbstverteidigungsangebot ist, muss sehr genau hinschauen?
Michel Ruge: Richtig. Man muss sich fragen, was man wirklich will: Sich mit seiner Angst wirklich auseinandersetzen oder der Vorstellung nachjagen, eine Art unbesiegbarer Superheld zu werden. Letzteres wird von Klischees gespeist, die häufig durch Filme beeinflusst sind. Wer sich überall verfolgt fühlt oder von einer unspezifischen Angst getrieben ist, der ist bei einem Therapeuten besser aufgehoben.
Zur Person: Michel Ruge
Michel Ruge, in den 70er- und 80er-Jahren auf St. Pauli aufgewachsen, betreibt Kampfsport seit seinem 13. Lebensjahr. Er hat mit Daniel Richter eine Escrima-Schule betrieben und als Türsteher in Berlin sowie als Personenschützer in Südafrika gearbeitet.
(Foto: Michel Ruge)
ALIAS: Was müssen die Anbieter beitragen?
Michel Ruge: Ausbilder und Schulen sollten ehrlicher sein mit den Aussagen über das, was ihr Angebot leisten kann – hier beginnt der Unterschied zwischen Kampfsport und Selbstverteidigung. Ein guter Kampfsportlehrer hat das Ziel, seine Schüler zu den besten Wettkämpfern zu machen; im Zweifel zu besseren, als sie es jemals waren. Das zeichnet einen guten Lehrer aus. Ein schlechter Ausbilder – meist zu finden im Selbstverteidigungsbereich, weil es dort keinen sportlichen Vergleich gibt – hat den Drang, immer die höchste Autorität in seinem Bereich zu sein. Er dominiert seine Schüler und verwechselt das mit Erfolg. Die Vorstellung, ein guter Selbstverteidigungslehrer zu sein, indem man ein Klischee erfüllt – egal, ob man nun den Hobby-Asketen gibt oder den gewaltbereiten Schläger – ist lediglich Ausdruck eigener Unsicherheit. Deshalb gebe ich meine Interviews gerne im Smoking oder in einem Setting, das zunächst völlig themenfremd erscheint. Ich will die Klischees aufbrechen, Bewusstsein dafür schaffen, dass guter Unterricht in Selbstverteidigung keine Projektionsfläche für Ängste oder Gewalt-Inszenierungen sein sollte. Am Ende geht es darum, jeden einzelnen Schüler für sich selbst stark zu machen, um in der entscheidenden Sekunde eine gute und selbstbewusste Entscheidung zu treffen.
ALIAS: Kämpfen und Selbstverteidigung sind also unterschiedliche Dinge?
Michel Ruge: Ja. Natürlich ist es von Vorteil, wenn man als Kampfsportler gelernt hat, sich zu bewegen. Wenn Speed, Ausdauer, Kraft und Reflexe geschult sind. Aber ein Duell im sportlichen Ring ist etwas ganz anderes als das Ringen um Unversehrtheit, wenn man angegriffen wird.
ALIAS: Aber du bestreitest nicht, dass Kampfsportler sich besser wehren können, oder?
Michel Ruge: Wie gesagt, es kann helfen, ist aber keine Garantie. Ich kenne Kampfsportler, die dem Druck auf der Straße nicht standhalten konnten. Und ich verstehe das total und würde das von einem guten Kampfsportler auch überhaupt nicht erwarten. Ich habe einen Weltmeister im Vollkontakt-Karate in der Pfütze landen sehen, als er im Straßenkampf versucht hat, einen Angreifer niederzustrecken. Einen Deutschen MMA-Meister erlebte ich in völliger Überforderung, als ich an der Tür mit ihm arbeitete. Daran ist nichts Verwerfliches, im Gegenteil. Es zeigt, dass sportlicher und existenzieller Druck zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Hier lohnt sich die Kontrollüberlegung, denn ansonsten wäre ja jeder Profiboxer gleichzeitig ein Experte in Selbstverteidigung. Deshalb kann man auch keinen Systemvergleich anstellen – Boxen, Kickboxen oder was auch immer sind eigenständige Kampfsport-Disziplinen und Selbstverteidigung eben auch.
ALIAS: Aber wenn selbst ein MMA-Meister noch als Türsteher überfordert sein kann – sind Selbstverteidigungskurse dann nicht generell Zeitverschwendung?
Michel Ruge: Nein. Menschen, die im Sicherheitsbereich arbeiten, müssen sich damit professionell auseinandersetzen. Als Privatmensch sollte man aber zunächst herausfinden, worum es geht. Besteht tatsächlich eine reale Bedrohung? Wir sprechen ja über die intensive Auseinandersetzung mit Gewaltsituationen über einen längeren Zeitraum – das hat keinen Hobbycharakter. Es verändert das Leben. Man kann sich nicht ständig mit dem Worst-Case-Szenario beschäftigen, ohne dass es einen psychisch verändert. Das steht in keinem guten Verhältnis, denn wir leben ja in Deutschland und nicht in einem Krisengebiet.
ALIAS: Aber ist es nicht allemal besser, wenn etwa eine Frau sich im Gym auf den Ernstfall vorbereitet? Sie mag ihrem Angreifer auch als trainierte Person körperlich unterlegen sein, doch schreckt nicht eine erste geschulte Gegenwehr schon viele ab?
Michel Ruge: Selbstsicheres Auftreten hilft. Vor allem, wenn es den körperlichen Übergriff schon im Vornherein abwendet. Darauf zu hoffen, dass die Frau einen aggressiven Täter besiegen kann, halte ich trotzdem für fahrlässig und würde es als Ausbilder einer Frau auch nicht suggerieren. Frauen haben realistische Chancen, wenn sie die Bereitschaft entwickeln, bestimmte Dinge zu tun – ein gut trainierter Körper und Sicherheit im Gym gehören aber nicht dazu.
Sich mit dem Daumen in der Augenhöhle des Angreifers festzukrallen, funktioniert zwar, ist aber keine Technik.
Michel Ruge
ALIAS: Was dann?
Michel Ruge: Es gibt Möglichkeiten, die auf der Straße funktionieren. Im Großen und Ganzen schafft die Selbstverteidigungsblase aber mentale Szenarien, die mit der Realität nichts zu tun haben. Denn eigentlich sollte es doch darum gehen, gar nicht kämpfen zu müssen. Durch das falsche Training machen wir möglicherweise Menschen scharf und animieren sie dazu, Gefahrensituationen zu unterschätzen. Jemandem mit dem Finger mit aller Kraft in die Augen zu stechen oder sich mit dem Daumen in der Augenhöhle des Angreifers festzukrallen, funktioniert zwar, ist aber keine Technik. Dem Angreifer das Ohr abzureißen oder ein Stück Hals abzubeißen auch nicht. Und trotzdem ist das Selbstverteidigung. Aber so etwas zu verinnerlichen, bringt eine beträchtliche Verrohung der Seele mit sich. Ist es das wert? Oder sollte man nicht lieber eine Bestandsaufnahme der wirklichen Bedrohung machen?
ALIAS: Du sagst, dass es in der Selbstverteidigung keine Techniken, sondern nur Ideen gibt. Wie darf man das verstehen?
Michel Ruge: Noch anders – es gibt Prinzipien. Ob ich Golf spiele, Fußball, Polo oder Handball: Es gelten dort physikalische Gesetzmäßigkeiten im Umgang mit einem Ball. Das ist ein Prinzip. Eine Technik wiederum ist an Bewegungsabläufe gekoppelt. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, dass Prinzipien und Techniken zwei verschiedene Dinge sind. Es zeigt, dass Selbstverteidigung vor allem viel mit Psychologie, mit der Bereitschaft zu verstehen und dem Erlangen von Klarheit zu tun hat. Es gibt keine Geheimtechniken und auch keine Zauberhebelgriffe. Ich kann die Wirkung eines Hebels zeigen, das ist dann das Prinzip. Eine generelle Technik als Antwort gibt es allerdings nicht, denn ein 1,70 Meter großer Mann, der 130 Kilogramm wiegt, erzeugt eine ganz andere Wirkung als jemand mit 2 Meter Größe aber geringerem Gewicht. Deshalb kann und muss es darum gehen, Prinzipien zu entwickeln, die individuell funktionieren – und deren Umsetzung hängt viel mehr von der mentalen Bereitschaft ab als vom Trainingszustand.
ALIAS: Was ist der größte Mythos der Selbstverteidigungsszene?
Michel Ruge: Dass man das Kämpfen trainieren muss. Das Gegenteil ist richtig, denn es geht darum, einen Angriff zu stoppen. Und zwar in jeder Eskalationsstufe. Lasse ich mich aber auf eine Duellsituation ein, begebe ich mich auf ein Terrain, auf dem ich fitter sein muss als der Angreifer. Inklusive der mentalen Haltung.
ALIAS: Und wie umgeht man das Duell?
Michel Ruge: Da gibt es vielfältige Möglichkeiten. Wenn man keine Opferhaltung einnimmt, hat man es schon mal geschafft, dass der Täter kein Opfer sieht. Das haben Studien gezeigt, bei denen Straftäter befragt wurden. Die Devise ist: Barrieren schaffen, Abstand schaffen. Man kann zum Beispiel die U-Bahn, in der man sich aufgrund anderer Anwesender unwohl fühlt, verlassen. Wenn man aussteigt, tut man dann vielleicht so, als würde man einen Freund anrufen und fragt am Handy: „Wo stehst du denn?“
Die Situationen, die trainiert werden, kommen denen in Krisen- oder Kriegsgebieten gleich.
Michel Ruge
ALIAS: Wie groß fällt der Schaden aus, der durch Mythen in der Selbstverteidigungsszene entsteht?
Michel Ruge: In meinen Augen entsteht ein enormer Schaden. Die Situationen, die trainiert werden, kommen denen in Krisen- oder Kriegsgebieten gleich. Es entsteht eine Parallelwelt voller Angst und Brutalität, die eine Gewaltspirale schafft. Weniger ist mehr. Wochen, Monate und Jahre voller Training stellen Gewalt in den Mittelpunkt. Für mich waren schon die Käfigkämpfe in den 1990ern völlig schwachsinnig. Da wird bis heute auf den Kopf getreten, wenn der Gegner schon am Boden liegt. Mittlerweile hat diese Form von Kampfsport mit ihren Unschärfen zwischen Kampf, Sport und Gewalt eine Popularität erlangt, die ich abstoßend finde. Sie akzeptiert abnormes Verhalten als normal und ist dabei bloß pervers.
ALIAS: Ganz allgemein gedacht: Was rätst du einem Menschen, der sich sicherer fühlen möchte?
Michel Ruge: Vermeidet unangenehme und gefährliche Situationen. Macht euch ein klares Bild über den wirklichen Zustand der Bedrohung in eurem Leben und trefft Entscheidungen, die euch wieder Sicherheit und Lebensqualität geben. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nie, aber ein schönes Leben, das kann es geben.
Interview: Florian Friedman