ALIAS-Autor Michel Ruge fragt sich: Die Digitalisierung ist menschengemacht – warum unterwerfen wir uns ihr dennoch so schnell?
Ich bin nur ein kleiner Asi aus St. Pauli, der das Leben genießen will und ein bisschen Verachtung für das Bürgerliche und Heuchlerische hegt. Und wenn ich mir Gedanken über unsere Gesellschaft mache, dann sind es ganz menschliche Gedanken, weil alles schlussendlich menschlich ist und nur arrogante Betrüger sagen, dass gewisse Themen doch viel zu komplex seien, um sie in Gänze dem gemeinen Bürger zu erklären.
Wir dürfen das Denken nicht „denen da oben“ überlassen, den von ihnen favorisierten Experten, ihren Lieblings-Lobbyisten oder -Wissenschaftlern. Auch nicht mehr der vierten Macht, die das Etikett „publikative Gewalt“ weitestgehend nicht mehr verdient, weil sie viel zu häufig nicht mehr im Sinne der Gewaltenteilung agiert, sondern agitiert.
Wie sprechen über die Digitalisierung, als wäre sie ein seiendes Wesen.
Michel Ruge
So hat mir erst vor ein paar Tagen ein gestandener und in Sachen Seriosität über alle Zweifel erhabener Journalist erzählt: Seit nicht mehr die Verleger und die Blattmacher, sondern die Controller an den Rudern der Medienhäuser sitzen, sind die Budgets für guten, unabhängigen Journalismus, für saubere Recherchen und Reisen vor Ort fast immer zu klein.
Dabei braucht guter Journalismus, wenn er zeigen will, was ist und nicht das, was die Macher gern hätten, den Besuch vor Ort, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, das Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen.
Weil immer mehr Medien riesigen Konzernen angehören, die nur auf Profit ausgerichtet sind, entstehen Lücken, in die vermeintliche Heilsbringer vorstoßen und ihre kruden Theorien verbreiten.
Was an Budget noch vorhanden ist, investieren die Konzerne in den Aufbau digitaler Medien. Millionen werden in den Rachen dieses riesigen Monsters geschleudert, von dem eigentlich keiner so genau sagen kann, was es ist – die Digitalisierung.
Wir sprechen über sie, als wäre sie eine Entität, ein seiendes Wesen, etwas Konkretes. Als sei sie in die Welt gekommen mit einer unwiderruflichen Existenzberechtigung. Als wäre ein Überleben ohne sie unmöglich, ihr Voranschreiten nicht aufzuhalten. Als würde die Welt zusammenbrechen, wenn man ihr den Kopf abschlägt.
Nichts ist falscher! Die Digitalisierung ist von Menschen gemacht. Von ein paar wenigen – und das ist Teil des Problems. Denn bis heute verstehen nur wenige Menschen das Internet wirklich. Stattdessen wird diese technologische Entwicklung einfach nur genutzt.
Dabei müssen wir verstehen: Wir hatten Strom, Kühlschränke und Klos, Autos, Züge und Flugzeuge, Telefone, Handel, Börsen und Banken lange, bevor es das Internet gab. Strom oder Gas durch Leitungen zu schicken, ist ein physischer Prozess, kein digitaler. Dank der Mechanik können wir Autos bauen und Flugzeuge fliegen. Das Wasserklosett wurde 1775 zum Patent angemeldet.
Machen wir uns klar: Die Digitalisierung als solche kann gar nichts.
Wir sind es, die alle Dinge vor den Altar dieser imaginären, von Menschen ausgedachten Macht werfen und hoffen, dass …
… Ja, was eigentlich? Weiß ich das, ohne die angeblichen Vorteile der Digitalisierung jetzt zu googeln?
Wir müssen uns klarmachen, dass zum Dokumentieren früher oder später das Kontrollieren und Reglementieren kommt.
Michel Ruge
Statt weiterhin Baerbock, Scholz und Spahn bei ihrem Schauspiel zu beobachten, sollten wir unseren Blick dorthin richten, wo wir selbst etwas unternehmen können: in unsere Köpfe und in unsere wichtigen öffentlichen Räume. Dort hat nichts zu suchen, wer defekte, womöglich gesundheitsschädliche Masken an Arbeitslose und Behinderte verteilen will, wer die systematisch angelegte Ausbeutung staatlicher Finanzen unterstützt oder wer Konzernen unter dem Deckmantel einer scheinbar umweltfreundlichen Politik die Macht über die Ressourcen zuschachern will.
Und wer jetzt schreit „Ja, wenn dir die Digitalisierung nicht passt, dann nutze doch kein Facebook!“, der hat in Teilen sogar Recht. Jeder weiß, dass auf solchen Portalen Daten gesammelt werden. Aber die Musik spielt gerade wirklich anderswo.
Wenn wir nämlich verstehen, dass es für Freiheit Freiräume braucht, dann erklärt sich die ganze Sache von selbst. Denn darauf hinzuweisen, wo und wie die mit der Digitalisierung verbundene Technologie unser Leben lückenlos dokumentiert, dürfte überflüssig sein. Aber wir müssen uns selbst immer wieder klarmachen, dass zum Dokumentieren früher oder später das Kontrollieren und Reglementieren kommt.
Was ist Digitalisierung? Die Aufteilung der Welt in Einsen und Nullen. Fast witzig. Die Einsen, die alles kontrollieren und die Nullen, die irgendwann nichts mehr besitzen.
Gnadenlos. Schwarz oder weiß. Friss oder stirb. Na, da fress ich doch lieber. Und trinke dazu ein Glas Champagner.
Ich füttere meine Sinne in der realen und nicht in der virtuellen Welt. Am liebsten mit möglichst vielen anderen Menschen. Öffnen wir unsere Räume, treffen wir uns!
Es gibt dich und mich. Die Digitalisierung gibt es nicht.
Δ Michel Ruge
Zur Person
Michel Ruge ist Spiegel-Bestsellerautor (Bordsteinkönig. Meine wilde Jugend auf St. Pauli). Mit seiner Frau, der Journalistin und Lyrikerin Annika Ruge, bildet er das Autoren-Duo Team Ruge. Gemeinsam schreiben sie unter anderem für die Hamburger Morgenpost, taz, die Welt oder die Zeit. Mehr Infos unter teamruge.de.
(Foto: Andreas Lühmann)