Der Terrorangriff vom 7. Oktober hat die Einstellung vieler Menschen in Israel verändert. Was denken israelische Zivilisten über palästinensische Zivilisten? Und wie bewerten sie die Kritik an ihrem Land?
von Judith Schneiberg
Die Welt zeigte sich jüngst entsetzt über die Vorwürfe gegen Mitarbeiter der UNRWA, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Dabei spricht man längst nicht mehr von nur 12 Mitarbeitern, die der Hamas nahestanden und an dem Terroranschlag vom 7. Oktober beteiligt waren. Israelische Geheimdienstinformationen weisen darauf hin, dass bis zu 10 Prozent der UNWRA-Mitarbeiter für die Hamas aktiv sind. Viele Geberländer fordern Aufklärung und halten ihre Zahlungen in Millionenhöhe zurück.
Die meisten Israelis schütteln über diesen plötzlichen Aufschrei in der westlichen Welt nur den Kopf. Fragt man derzeit nach Hoffnung auf Frieden oder nach Mitgefühl für die palästinensische Zivilbevölkerung, hört man ziemlich einhellig eine Antwort: Die Zivilbevölkerung und die Hamas sind gar nicht mehr auseinanderzuhalten. Wie soll man da an einen möglichen Frieden denken? Und ja, das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung geht sie an, aber es scheint unmöglich herauszufinden, wer sich mit der Hamas solidarisiert hat oder sogar Mitglied ist und wer nicht.
„Wir wissen nicht, wer unschuldige Zivilisten sind. Der Krieg hat ihnen ihre und uns unsere Unschuld genommen“, sagt die IT-Studentin Becky Fish. Sie und ihr Freund Roman Reichmann, der als IT-Manager arbeitet, wurden aus Kirjat Schmona im Norden Israels evakuiert und können wegen des starken Raketenbeschusses aus dem Libanon nicht in ihr Zuhause zurückkehren. „Es gibt so viele unmögliche und unlösbare Situationen“, sagt Roman. „Was sollen wir zum Beispiel mit Gaza machen? In Gaza gibt es Zivilisten, die nicht dafür verantwortlich gemacht werden sollten, was passiert ist. Aber sie sind Teil der Situation. Wir müssen uns angemessen verteidigen.“
Dass so viele in der westlichen Welt Israel beschuldigen, im Gazastreifen unnötiges Leid zu verursachen, können sie sich nur dadurch erklären, dass im Westen aufgewachsene Menschen nicht verstehen, was das, was die Israelis erlebt haben, bedeutet. Roman ist sich sicher: „Sie begreifen nicht, was es heißt, wenn Leute in dein Haus eindringen und deine Familie abschlachten oder deine Frau oder Tochter vor deinen Augen vergewaltigen, nur um Terror zu säen. Menschen, die den Tod eigentlich nur als natürlichen Tod kennen, werden das Gefühl, das wir hier seit dem 7. Oktober haben, nicht nachvollziehen können. Wir konnten uns diese furchtbaren Dinge, die uns angetan wurden, diese Grausamkeit und Unmenschlichkeit, auch nicht vorstellen.“
Für Arthur Rashkovan liegt der Fall anders. Er sieht in der Haltung der westlichen Welt gegenüber Israel und seinem Vorgehen in Gaza ganz klar einen tief verwurzelten Antisemitismus. „Der Judenhass ist so stark im Unterbewusstsein der christlichen Welt verankert, dass die Menschen dort nicht verstehen, dass sie Juden hassen. Sie benutzen andere Begriffe, um ihrem Antisemitismus Ausdruck zu verleihen. „Free Palestine“ zum Beispiel. Der BDS und mit ihm Roger Waters und Greta Thunberg sind durch und durch antisemitisch. Sie argumentieren nur scheinbar politisch. In Wirklichkeit hassen sie Juden und merken es nicht einmal.“
Arthur findet es absurd, wie überall auf der Welt der Begriff „Apartheid“ gestreut wird. Er weiß: Es wohnen viele Araber in Israel, die ein sehr gutes Leben haben. „Wenn man nach Jaffa kommt, findet man überall Moscheen und Muezzins, die zum Gebet rufen“, sagt Arthur. Die meisten der arabischen Israelis stünden hinter der Sache Israels und würden die Lüge hinter der Behauptung, dass die Hamas eine Freiheitsbewegung sei, erkennen.
Arthur besitzt einen Surfladen in Tel Aviv und hat jahrzehntelang in der Bewegung „Surfing 4 Peace“ gearbeitet. Araber und Juden in Israel, Gaza und dem Westjordanland sollten durch das Surfen zusammenfinden. Bretter wurden an den Behörden vorbei nach Gaza geschafft, um dort eine Surfszene aufzubauen. Manchmal konnten sogar Palästinenser aus Gaza mit einer Einreiseerlaubnis nach Tel Aviv eingeladen werden, um zu surfen. Es ging darum, mit dem Surfen Grenzen zu durchbrechen.
Heute hat Arthur den Glauben an ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern verloren: „Ich weiß nicht, wer unter den palästinensischen Zivilisten für und wer gegen die Hamas ist. Ich sehe manche der Surfer, die ich kenne, wie sie die Hamas unterstützen und ,From the River to the Seaʻ rufen.“
Über Frieden auch nur nachzudenken, sei für die meisten Israelis gerade unmöglich. Es sei ein Wort, das im Moment für sie nicht relevant ist. „Als ich mit ,Surfing 4 Peaceʻ begonnen habe, wollte ich den Dialog unter den normalen Menschen voranbringen, um eine Verbindung herzustellen – durch die Freude, die ein Surfboard erzeugen kann. Für mich als Israeli bedeutete es, alles zu tun, um friedlich zu koexistieren. Bis die andere Seite gezeigt hat, dass sie das nicht möchte. Und das haben wir jetzt: In Israel grüßt man mit ,Shalomʻ – aber das hier ist Krieg.“
Lior Zadikevitch, ein 22 Jahre junger Mann, der gerade in der Armee seine Wehrpflicht erfüllt, verlor an dem Tag des Überfalls der Hamas seinen Vater. Lior kommt aus Kfar Azza, einem Kibbuz nahe Gaza mit ehemals 765 Menschen. Jetzt ist dort niemand mehr; der Kibbuz wurde völlig zerstört. Am Tag des Überfalls befand Lior sich im Rahmen einer Observation in Ramallah. Sein Vater hielt sich im Kibbuz auf und wurde erschossen. Lior kennt fünf der 239 Geiseln und nennt sie seine Freunde. Der Tod einer dieser Geiseln ist mittlerweile von Seiten der Regierung bestätigt. Über die anderen vier weiß man nichts.
Lior sagt: „Hättest du mich vor dem 7. Oktober gefragt, ob Araber und Israelis friedlich zusammenleben können, hätte ich gesagt, dass ich 100 Prozent sicher bin, dass das möglich ist. Früher oder später. Dass wir zusammenleben, gemeinsam Geschäfte machen und aus diesem Land eines machen werden, in dem gemeinsam gefeiert wird und in das Touristen aus der ganzen Welt kommen. Nach dem 7. Oktober kann ich mir das nicht mehr vorstellen. Sie haben meinen Vater getötet. Und dann habe ich gesehen, wie ,unschuldige Zivilistenʻ in meinen Kibbuz gekommen sind und uns beraubt haben. Ich habe gesehen, wie sie der Hamas zugejubelt haben und das auch im Westjordanland tun. Eigentlich hänge ich sehr an meiner Hoffnung, aber ich habe sie nicht mehr. Es gibt sicher auch gute Leute unter ihnen, nur wird das nicht reichen.“
Die Hamas habe es geschafft, Hass nicht nur in die Herzen der Palästinenser zu streuen, sondern wie nie zuvor auch in die der Israelis, sagt Arthur. „Aber die Welt sieht jetzt wenigstens, was wir schon lange wussten: dass die Hamas ein System etabliert hat, das bereits den Kindern in einem sehr zarten Alter Hass einpflanzt. Dass sie sich überall einnisten. In Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern.“
Die neueren Erkenntnisse über die UNWRA überraschen ihn nicht. „So wie ihre unterirdischen Labyrinthe ist auch ihr Hass verzweigt und überall. Und er sitzt für Generationen.“ Die Zeit für Frieden werde kommen, aber Frieden sei ein Prozess und brauche den Dialog zwischen Regierungen. Daran ist derzeit weder in den Palästinensergebieten noch in Israel zu denken.
Und ist es den Menschen in Israel zu verübeln, dass sie Sicherheit für sich und ihre Familien fordern? Dass sie erst dieses basale Bedürfnis aller Menschen gewährleistet sehen wollen? „Es gilt, wir oder sie“, sagt Arthur. „Wenn ich bedroht werde, denke ich erstmal an nichts anderes als an meine eigenen Leute.“ Erst danach könne man über Beziehungen zwischen den Völkern reden.
Das Fazit? Frieden zu schließen war, ist und bleibt ein Risiko für Israel. Die palästinensische Führung hat, statt ernsthaft Frieden zu verfolgen, schon immer auf die Doppelstrategie Diplomatie und Terror gesetzt. „Ein Fehler,“ so der in Tel Aviv geborene und in Berlin lebende Historiker Michael Wolffsohn, „denn dann hat die israelische Öffentlichkeit gesagt, also wenn wir das ,Risiko des Friedensʻ auf uns nehmen, wie der damalige Ministerpräsident Rabin sagte, dann möchten wir auch Frieden und nicht mehr Terror.“ Das habe dann 1996 zur Wahl Netanjahus geführt, der Frieden und Sicherheit versprach und beides nicht halten konnte. Die palästinensische Seite habe immer auf Gewalt gesetzt, aber irgendwann nicht mehr als politisches Mittel, so Wolffsohn. Seit die Hamas 2007 die Macht in Gaza nach einem Bürgerkrieg gegen die säkulare Fatah-Partei an sich riss, sei Gewalt nach außen nur noch Selbstzweck. Und nach innen diene sie der Unterdrückung.
Eine Zwei-Staaten-Lösung, wie sie die Weltgemeinschaft vorschlägt, ist nur vorstellbar, wenn Sicherheit gewährleistet ist.
Die meisten Menschen in Israel sind sich bewusst darüber, dass die Hamas ihre Stärke durch die Schwäche der Menschen in Gaza gewinnt. Umso schlechter es der Bevölkerung geht, desto anfälliger ist sie dafür, von Terroristen ausgenutzt und belogen zu werden. „So funktionieren Diktaturen“, sagt Becky und Roman ergänzt: „Deswegen sollten wir diesen Leuten helfen, die schwach sind. Aber das geht mit einem großen Risiko einher. Was, wenn es misslingt? Es ist schwierig, das auszubalancieren. Und in der jetzigen Situation können wir dieses Risiko vielleicht nicht auf uns nehmen.“
Es scheint, Israel hat es in den letzten anderthalb Jahrzehnten versäumt, vor dem Rest der Welt immer wieder und wieder klarzustellen, dass man es bei der Hamas nicht mit einer legitim regierenden Gewalt zu tun hat. Es war nur eine Frage von erschreckend kurzer Zeit, bis selbst nach den Überfällen vom 7. Oktober, Israel als Aggressor dastand und die Täter und ihre Unterstützer als Unterdrückte, die für die Freiheit Palästinas kämpfen. Schon einen Tag nach dem 7. Oktober ließ die Weltgemeinschaft Kritik dieser Art an Israel verlauten und wandte sich von dem Land ab.
Noch bis vor Kurzem musste darum gestritten werden, die Vergewaltigung der israelischen Frauen durch die Hamas-Terroristen anzuerkennen. Erst am 29. Januar, dreieinhalb Monate nach den Vorfällen, die von Tätern und Mittätern gefilmt und als Trophäe öffentlich gemacht wurden, reiste die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt nach Israel, um mit Betroffenen oder Angehörigen von Betroffenen zu sprechen und die Taten auf diese Weise anzuerkennen.
Fragt man nach einer realpolitischen Idee für die Zukunft von Israel und den Palästinensergebieten, wissen die Befragten keine klare Antwort. Und so geht es wohl den meisten Israelis. Eine Zwei-Staaten-Lösung, wie sie die Weltgemeinschaft vorschlägt, ist nur vorstellbar, wenn Sicherheit gewährleistet ist. Wie man sich das wiederum vorstellen soll, scheint keiner zu wissen, egal ob Politiker, israelische Zivilisten oder moralisierende Europäer.
Auch die Studenten Becky und Roman, der ehemalige Friedenaktivist Arthur und der junge Lior, der Vater und Freunde durch die Hamas verloren hat, haben keine sehr konkreten Vorschläge. Abgesehen davon, dass die Siedlungspolitik, die in ihren Augen ein Verbrechen ist, dem Ansehen Israels schade und unbedingt aufhören müsse. Und Lior ist überzeugt, dass Netanjahu gehen muss, damit in Israel wieder umgedacht werden könne.
Fragt man sie nach einer Vision für Israel fern der politischen Realität, dann wünschen sich Becky und Roman ein Land, in dem sie keine Angst mehr vor Attentaten haben müssen, wenn sie mit dem Bus fahren oder auf eine Party gehen. Lior träumt die Vision seines Vaters: Gaza ohne Terroristen. Die Leute gehen ein und aus in dieser schönen, florierenden Region. Israelis kommen an die Strände von Gaza, um zu surfen. Man lebt zusammen.
Und Arthur sagt: „Wenn ich eine Vision für Israel nach diesem Krieg formulieren dürfte, die nichts mit Realpolitik zu tun haben muss, dann ist es der Wunsch, dass die Welt am Ende sieht, wofür der Staat Israel wirklich steht und wie wir diesen Prozess, dieses dunkle Tal, durchlaufen haben. Dass ein klares Bild davon herrscht, was wir all die Jahre getan haben, um diese Situation zu beenden. Ich würde mir wünschen, dass die Welt sieht, dass wir das Kronjuwel des Nahen Ostens sind. Wir haben dieses wunderbare Land hier in 75 Jahren aufgebaut. Die Palästinenser haben es zerstört.“
Δ Text: Judith Schneiberg, Fotos: Gaby Schütze