Avraham lebt im Grenzgebiet zum Gazastreifen. Er hat in seinem Leben zu viel gesehen, um am Krieg der Hamas gegen Israel noch etwas erkennen zu können, das ihm Angst macht.
Ein halbes Jahrhundert nachdem er ins Meer fiel und um sein Leben schwamm, sitzt Avraham am Rand einer Wüste auf dem Trockenen und rülpst. Das vierte Bier ist getrunken. Vor ein paar Tagen heulten wieder die Sirenen, Raketen schlugen ein. Heute brennt nur die Sonne vom Himmel.
Avraham sitzt vor seinem Stammkiosk in der israelischen Kleinstadt Sderot und gibt noch einen aus. Wenn der Alarm erklingt, bleiben ihm 15 Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen. Der nächste Luftschutzraum liegt 20 Meter vor ihm: eine Bushaltestelle, die wie alle in dieser Stadt zum Bunker umgebaut wurde. 20 Meter zu viel für einen betrunkenen 85-jährigen.
Islamisten aus dem Gazastreifen haben seit 2001 zehntausende Raketen und Mörsergranaten auf Sderot und Umgebung gefeuert. Israel schlug mehrfach in groß angelegten Militäroperationen gegen die Hamas und andere militante palästinensische Gruppen zurück. Die Zahl der Opfer geht in die Tausende.
Von Sderot sind es nur wenige hundert Meter bis zum Gazastreifen. Auf jedem Spielplatz der Stadt steht ein Bunker, das Militär ist allgegenwärtig.
Avraham hat trotzdem keine Angst vor Raketen. „Hitler ist hinüber, Stalin ist hinüber – wovor soll ich mich noch fürchten?“ sagt er. „Die Hamas? Das sind dumme Leute, aber wir könnten ihnen helfen. Schau, die Juden haben Köpfchen. Wir sind keine Verlierer.“
Dass viele Einwohner des Gazastreifens sich dagegen als Verlierer sehen, ist angesichts der militärischen Übermacht Israels verständlich. Aber auch in Sderot lebt mancher, der sich zu Recht abgehängt fühlt. 1951 als Übergangscamp für jüdische Immigranten aus Kurdistan und dem Iran gegründet, hat es meist nur jene an diesen Ort verschlagen, die sich eine Bleibe in Metropolen wie Tel Aviv oder Jerusalem nicht leisten konnten. Bis heute sind es neben russischen Einwanderern noch immer vor allem Juden aus islamisch geprägten Ländern, die hier leben. Wer es zu etwas bringt, haut ab aus diesem Städtchen am Rande der Negev-Wüste.
Trotz aller kulturellen und politischen Gegensätze war das Verhältnis der Juden von Sderot zu ihren arabischen Nachbarn im Gazastreifen lange entspannt. Bis in die Achtzigerjahre liefen sie noch in die 900 hundert Meter entfernte palästinensische Stadt Beit Hanoun, um auf dem Markt Gewürze und Gemüse einzukaufen. „Man stelle sich vor: Wir haben in den Läden sogar anschreiben lassen!“ erinnert sich Sderots ehemaliger Bürgermeister Eli Moyal. Araber kamen im Gegenzug aus Gaza zum Arbeiten in die jüdische Stadt, mieteten sich Wohnungen. „Es gab sogar Liebelein“, sagt Moyal.
Vorbei war es mit alldem, als 2001 im Zuge der zweiten Intifada aus dem sozialen Brennpunkt Sderot ein (inoffizielles) Kriegsgebiet wurde. Der Raketenbeschuss begann und brachte dem 27.000-Einwohner-Ort weltweit traurige Bekanntheit ein.
Auch Avraham, der im nahen Kibbuz Dorot lebt, erinnert sich noch gut an den regen Austausch, der einmal zwischen Palästinensern und Israelis bestand. Seit er nicht mehr nach Beit Hanoun oder andere arabische Städte in der Region kann, fährt er eben aus seinem Kibbuz alle paar Tage nach Sderot, um einzukaufen – und ein paar Goldstar-Dosenbier vor seinem Stammkiosk zu trinken.
Avraham reißt Zoten und albert mit anderen Gestrandeten herum, die wie er versuchen, irgendwie einen weiteren Tag herumzukriegen in der Provinz des Landes, wo angeblich Milch und Honig fließen. Juden aus Marokko, Indien, Russland und dem Jemen lachen hier und zanken sich, trinken und starren auf einen maroden Parkplatz, die raketensichere Bushaltestelle dahinter und eine Bankfiliale, die aussieht, als würde dort schon seit der Staatsgründung Israels vergeblich auf den ersten Kunden gewartet.
„Früher war ich Automechaniker, aber das ist lange her“, sagt Avraham. „Wir haben klein angefangen, in einem Kibbuz. Meine Brüder sind heute Millionäre. Einer hat sein Vermögen mit Avocados gemacht.“
Avrahams Sohn wurde Pilot, seine Tochter Psychologin. „Die hat sogar einen Doktor“, sagt er. „Sie meint, ich trinke zu viel. Aber was soll das? Ich bin 85 Jahre. Morgens komme ich hier her und trinke meine drei, vier Bier, bis ich einen Schwips habe. Na und? Ich laufe nicht in Schlangenlinien, oder? Ich muss niemanden mehr versorgen. Ich will keinen Ärger. Alles ist in Ordnung.“
Avraham stammt aus Polen. Als er sechs war, musste seine Familie vor den Deutschen in die Sowjetunion fliehen. „Stalin ließ die Juden damals in sein Land. Das war gut, denn eigentlich will keiner mit uns zusammenleben.“
„Mein Schwiegervater hatte vor dem Krieg eine Konditorei in Hamburg“, erinnert er sich. „Ich konnte auch mal Deutsch, aber ich glaube, davon ist nichts mehr übrig. Nach 1945, als der Krieg vorbei war, bin ich mit meiner Familie nach Ulm gereist. Ich sah, wie sie auf der Straße einen Mann erhängten.“
In den Vierzigerjahren emigrierte Avrahams Familie nach Palästina. Fast dreitausend Juden waren an Bord des Schiffs, das sie in den Nahen Osten bringen sollte – und das umkehren musste, weil die Briten, die damals das Völkerbundsmandat für Palästina innehatten, den Passagieren die Einreise verweigerten. Zehn Monate harrte Avrahams Familie auf Zypern aus, bis sie schließlich doch einwandern durfte.
„Im Sechstagekrieg habe ich dann in der Marine gedient, auf dem Zerstörer Eilat. Die Ägypter versenkten uns vor Port Said.“ Der Sechstagekrieg war seit Monaten vorbei und die Eilat befand sich auf einer Routinepatrouille in internationalen Gewässern, als Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser am 27. Oktober 1967 den Befehl gab, den israelischen Zerstörer mit Lenkraketen zu beschießen. Zwei Einschläge setzten die Eilat in Flammen und machten das Schiff manövrierunfähig. Die Besatzung versuchte, die Feuer an Bord zu löschen und wartete auf Hilfe aus Israel. Eine Stunde später wurde die Eilat mittschiffs von einer dritten Rakete getroffen und kenterte.
„Ich fiel ins Meer“, sagt Avraham. „Sechs Stunden musste ich im Wasser auf Hilfe warten. Ich dachte, ich sterbe.“ 47 Besatzungsmitglieder hatten weniger Glück und ließen ihr Leben, mehr als hundert wurden verletzt.
„Das ist alles so lange her“, sagt Avraham. Es ist spät geworden an diesem raketenfreien Tag in Sderot. Mit einem breiten Grinsen und vier Plastiktüten voller Lebensmittel kommt der Kioskbesitzer aus seinem Laden. Avraham bedankt sich für die Einkäufe und reißt noch einen Witz. Irgendeine Zote über marokkanische Juden, Jähzorn und Messer. Gleich ist sein Taxi da. Kerzengerade schleppt er die Tüten über den Parkplatz zur Straße.
Irgendwann, da ist Avraham sicher, geht das Regime der Hamas im Gazastreifen zugrunde. Er wird es nicht mehr erleben. Auch da ist er sich gewiss: Die Feinde der Juden kommen und gehen. Er hat Hitlers Holocaust und Stalins Terrorherrschaft, Nassers Beschuss der Eilat und Arafats Intifada überlebt. Avraham hat keine Angst mehr vor Raketen.
Δ Florian Friedman