Gönnt Euren Kindern Gefahr!

Der Schmerz beim Sturz vom Apfelbaum, das Unwohlsein bei einer Rangelei, Wut und Ohnmacht weil nicht möglich ist, was so dringend getan werden will – die Kindheit ist voller Stress. Wenn es eine gute Kindheit ist, finden Annika und Michel Ruge, die gerade mit ihrer Tochter Afrika durchqueren.

von Annika und Michel Ruge

Wir lernen aus Erfahrungen. Je mehr wir davon sammeln, umso besser. Vor allem dann, wenn sie vielfältig sind und uns gehören – vom Anfang bis zum ungewissen Ausgang.

Wenn Leben aus lebendiger Erfahrung besteht, dürfen wir diese den Kindern nicht nehmen. Das Leben wirft sie uns täglich vor die Füße. Sie entstehen quasi im Vorbeigehen – Kinder sehen immer etwas, das sie anschauen oder anfassen möchten. Sie bleiben stehen und während sie aufgeregt, fasziniert oder erstaunt sind, bedeuten diese Momente für die meisten Erwachsenen: Stillstand. Eine ärgerliche Unterbrechung des Alltags mit seinen geregelten Abläufen. Allzu oft hält dessen Einhaltung als Ausrede her, warum man schnell weiter muss.

Statt also die fröhlichen Spatzen beim morgendlichen Bad in der Pfütze zu beobachten, wird dem Kind das Erleben dieses Moments mit dem Versprechen eines Zoobesuchs am Wochenende genommen. Eine Situation, die am Ende für alle Beteiligten quälend ist – und weil sich solche Momente aneinanderreihen wird der Alltag zur Qual.

Was hier geschieht, ist die Abspaltung der lebendigen und spontanen Erfahrungen aus dem Leben. Wer jetzt „Ja, aber!“ ruft, für den ist nichts zu holen. Denn es geht hier erst einmal nicht darum, was möglich oder unmöglich ist, sondern um die Bewusstheit: Wir existieren in einer Welt, in der die Lebenszeit der meisten Menschen eingeteilt ist in Arbeitszeit, Freizeit, Familienzeit, Paarzeit, Urlaubszeit und so weiter. Doch das Leben lässt sich ebenso wenig sauber segmentieren wie ein Fluss – die Übergänge sind fließend oder sollten es sein, damit das Leben nicht in Einzelteile zerfällt beziehungsweise damit sich Erfahrungen auf andere Lebensbereiche anwenden lassen. Es geht um das, was auch Transferleistung genannt wird.

My Teacher Africa

„Denn es sind vor allem die Grenzerfahrungen, aus denen resiliente und starke Persönlichkeiten erwachsen“, sagen Annika und Michel Ruge. Gerade sind die beiden mit ihrer eineinhalbjährigen Tochter in Afrika und durchqueren den Kontinent im Geländewagen. Zu viel Stress für ein Kleinkind? Im Gegenteil, finden die Ruges und erleben, wie ihre kleine Tochter an den intensiven Erfahrungen wächst.

Was die Ruges in Afrika erleben, lässt sich am besten auf ihrer Instagram-Seite MyTeacherAfrica verfolgen.


Wir gehen nicht so gern mit unserer Tochter auf Spielplätze, denn die lassen wortwörtlich wenig Spielraum. Wo dreimal so viele Erwachsene wie Kinder das Treiben der Kleinen in der Sandkiste aus 30 Zentimetern Entfernung überwachen, um beim kleinsten Vergehen (Sand essen, der kleinen Anna-Lena das Förmchen klauen, mit der Schaufel so fest auf den Rand hauen, dass der Sand nebenan dem spielenden Maximus-Carolus in die Augen spritzt oder Charlotte-Sophie, die sich die Schuhe auszieht, um das Element Erde an ihren Füßen zu spüren) einzugreifen, kommen wir uns vor, als stünden wir neben Gefängniswärtern. Kinder, die unter 100 müden, wachsamen Augenpaaren versuchen sollen, sich selbst auszuprobieren und die Welt zu begreifen – das ist absurd.

Auch Anna-Lena muss ihre Aggression spüren dürfen, wenn Malte ihr zum zehnten Mal die Schaufel klaut. Überhaupt macht uns dieser Umgang mit Aggression, wie sie erst einmal wertfrei zu betrachten ist, nämlich als Triebfeder des Lebens, selbst ein bisschen wütend. Kaum wird an einem sorgfältig geflochtenen Bauernzopf gezogen, entreißen die Erwachsenen den Kleinen ihre Gefühle und negieren sie: Entweder, indem sie den Kindern erzählen, dass ihr Gefühl falsch ist oder sie stülpen sich das Gefühl ihres Kindes über und halten dem kleinen Gegenüber selbst einen scheinbar vernünftigen Vortrag, dessen aggressiver Unterton beide Kinder verunsichert.

Sich zu streiten inklusive körperlicher Rangeleien ist Teil des Lebens, ist Kommunikation und eine wertvolle Erfahrung für die Entwicklung von Empathie. Denn wer keine schmerzhaften Erfahrungen macht, der kann sich kaum in jemanden hineinfühlen, für den es gerade nicht so gut läuft. Und mehr noch: So wie sich Knochen abbauen, wenn sie nicht belastet werden und das Immunsystem von Kindern den Kontakt mit Viren und Bakterien braucht, um sich gesund auszubilden, braucht es Stress, um den Umgang damit zu lernen.

Schon Jesper Juul hat treffend formuliert, dass „Kinder kein Spielzeug brauchen, sondern Zeug zum Spielen“.

Während es die Posttraumatische Belastungsstörung in den allgemeinen Sprachgebrauch geschafft hat, hört man vom Posttraumatischen Wachstum erstaunlich wenig. Diese Eigenschaft, die uns an Krisen wachsen lässt, ist ein wichtiger Entwicklungstreiber. Wobei es uns schwer fällt, Streits oder Misserfolge in gewissem Rahmen und Umfang als Krise zu bezeichnen. Doch die Tatsache, dass Eltern auf der Suche nach „sicheren Spielverabredungen“ für ihre Kinder miteinander die Gegebenheiten diskutieren, unter denen „gespielt“ werden darf, zeichnet ein anderes Bild. Das von einer Elterngeneration, erfüllt von Furcht – vor dem, was dem Nachwuchs auf dem Weg ins Leben Schreckliches passieren kann und vor dem eigenen Versagen. Ach ja, und vor dem, was die anderen sagen. Über den Kinderwagen, die Kinderkleidung oder die Originalität der Kinderzimmerdekoration. Doch wozu der ganze unnötige Plunder, wo doch schon der dänische Familientherapeut Jesper Juul so treffend formuliert hat, dass „Kinder kein Spielzeug brauchen, sondern Zeug zum Spielen“. Und genau darum geht es – das Leben selbst lehrt Kinder am besten. Und dafür braucht es beherzte Eltern, deren Herz sowohl zur Liebe als auch zu Mut fähig ist. Denn: Alles, was unsere Kinder jetzt erleben und lernen, prägt in zwanzig Jahren unsere Gesellschaft.

Wenn Kinder lernen, dass das Verlassen ausgetretener Pfade möglich ist und dass es in Ordnung ist, ein Wagnis einzugehen, dann resultiert aus solchen Erfahrungen Stolz und Selbstbewusstsein. Solcherlei Erfahrungen führen nicht nur zu einem gesunden mentalen Wachstum, sie machen auch glücklich. Denn es ist wichtig, dass wir nicht nur von einer glücklichen Kindheit sprechen, sondern uns auch bewusst machen, was Glück für unser Kind bedeutet. Wir haben jüngst einen solchen Moment mit unserer Tochter Jaguar erlebt, als sie ganz alleine, mit 18 Monaten, die Leiter an unserem Land Rover hinauf ins Dachzelt geklettert ist. Dabei haben wir so viel Distanz zwischen ihr und uns gelassen, dass sie diesen Moment für sich alleine spüren konnte. Man sieht in dem Video, das wir davon gemacht haben, deutlich, wie sie ihren ganzen Körper einsetzt, um herauszufinden, welches der beste Weg nach oben ist – und übrigens auch der sicherste. Tatsächlich prüft sie mit ihren Füßchen, ob die Stufe hält und lehnt sich vor dem Einstieg ins Dachzelt gegen die Leiter, um erst einmal Stabilität zu gewinnen.

Jaguar ist ein Wagnis eingegangen – sie wusste nicht, ob sie es alleine bis ins Dachzelt schafft. Auch wir wussten es nicht. Doch statt ihren Wunsch zu unterdrücken und ihr den Lernprozess zu nehmen, haben wir ihre Motivation ernst genommen. Mit dem Ergebnis, dass sie selbstbestimmtes Handeln erlebt hat und vor allem unfassbar glücklich aussah, als sie auf der Matratze saß und uns gewunken hat.

Die Folgen der Verschmelzung von Erwachsenen- und Kinderwelt reichen bis zur totalen Erschöpfung aller Beteiligten.

Wir sind überzeugt davon, dass das Glücksgefühl solcher Erfahrungen eine langfristige positive Wirkung hat. Ganz anders als das kurzfristige Glück, das wir beobachten, wenn Jaguar auf modernes Spielzeug trifft. Das bunte Plastikzeug lockt mit Knöpfen, Tasten, Lichtern und Geräuschen und lässt wenig Raum für die eigene Phantasie. Es ist ebenso schnell erkundet, wie es langweilig wird. Weshalb regelmäßig nachgekauft werden muss, um das Kind bei Laune zu halten. Dass es auch anders geht, zeigt unsere Fahrt durch Afrika: Da das Platzangebot im Land Rover Defender begrenzt ist, hat Jaguar einen kleinen Pappkoffer mit Spielzeug dabei. In dem ist Platz für Wachsmaler, eine kleine hölzerne Spieluhr, eine kleine Donald-Figur, einen magnetischen Elefanten, den man auseinander- und zusammenbauen kann, eine kleine Stoffpuppe und zwei Minibücher. Tatsächlich bevorzugt Jaguar zum Spielen allerdings lieber unsere zwei Küchenkisten, also Geschirr, Besteck, Töpfe und Schüsseln und überhaupt alles, was sie unterwegs so findet. Ebenso die meisten der Kinder, mit denen Jaguar hier spielt: Alte Getränkedosen verwandeln sich in Raketen, Autos und Flugzeuge. Hier werden aus Muscheln U-Boote oder UFOs, Äste zu Mulis und Pferden oder alte Plastikflaschen und -behälter zu Schaufeln und Eimern. Wenn die Eltern noch ein bisschen Klebe und Bänder springen lassen, entstehen die schönsten Dinge quasi aus dem Nichts.

Weil die Kinder erleben, wie das Spielzeug entsteht, haben sie eine ganz andere Bindung dazu als zur Plastikware aus dem Kaufhaus. Was jedoch am Schönsten ist: Parallel zum Spielzeug entwickeln die Kinder eine ganze Welt drumherum, lassen Orte und Szenerien entstehen, erfinden Namen, Orte und Ereignisse. Je nachdem wie alt die Kinder sind, können sie stundenlang in diesen Welten verweilen und müssen nicht beschäftigt werden.

Alte Getränkedosen verwandeln sich in Raketen.

Tatsächlich erleben wir, dass das Beschäftigen von Kindern für viele Eltern zur tagesfüllenden Aufgabe wird. Während wir uns als Kinder auf den Samstag oder Sonntag als Familientag gefreut oder vor ihm gegruselt haben, soll heute am besten jeder Tag zum „Happy Family Day“ werden. Die Folgen dieser Verschmelzung von Erwachsenen- und Kinderwelt reichen bis zur totalen Erschöpfung aller Beteiligten. Wenn sich Erwachsene nur noch im Kinderkosmos bewegen, dann fehlt der eltern- oder erwachsenengerechte Anteil im Leben. Wer nur noch in praktischer Funktionskleidung herumrennt, weil am Ende des Tages eh alles gewaschen werden muss oder den Tisch nicht mehr schön deckt, weil das gute Porzellan kaputt gehen könnte, der beraubt sich selbst der Lebenslust. Diese Lustverweigerung lässt das erwachsene und das kindliche Erleben verflachen, und dabei brauchen ebenso die Kinder wie auch die Erwachsenen diese sinnliche Welt.

Die Welt der Erwachsenen ist dabei für Kinder ein spannender Raum. Es braucht die Schwelle zwischen den Welten, mit dem Ziel, dass das Kind sie irgendwann übertreten kann und in voller Bewusstheit die Zeit der Kindheit beendet. In vielen Kulturen wird dieser Zeitpunkt als besonders wichtig und wertvoll erachtet und mit einem Initiationsritus gewürdigt. Deshalb halten wir die Trennung wie die Berührung von Kinder- und Erwachsenenwelt für so wichtig – und haben daher auch unsere liebgewonnenen Black-Tie-Dinner in unserem Hamburger Atelier auch nach Jaguars Geburt weiter veranstaltet. Und während wir gegessen, getrunken und uns mit anderen Erwachsenen – selten über Kinder – unterhalten haben, hat Jaguar inmitten des Trubels wunderbar geschlafen. Wer sich jetzt fragt, ob ein Baby so überhaupt schlafen kann oder ob das nicht zu viel Trubel ist, der sei daran erinnert, dass wir in grauer Vorzeit unsere Babys nicht in einen dunklen von der Höhle abgetrennten Raum abgelegt haben, um alleine am Feuer zu sitzen. Bis heute tragen wir diese Information in uns – Babys und Kleinkinder wachen regelmäßig auf um sicherzustellen, dass die Sippe noch da ist und man nicht allein dem Säbelzahntiger oder der Giftspinne ausgesetzt ist. Wir sind, und das erleben wir während unserer Reise, für das Leben in einer größeren Gemeinschaft gemeint.

„Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen“, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Tatsächlich ist das Zusammenleben im öffentlichen Raum ein anderes als bei uns – wir erleben Erwachsene, die nicht nur die eigenen Kinder im Blick haben. Alle Kinder werden gleichermaßen mit einem Stück Kuchen bedacht und gemaßregelt, wenn sie Mist bauen. In einem deutschen Restaurant würden wir uns kaum trauen, ein Kind darauf aufmerksam zu machen, dass das Geklopfe mit dem Löffel auf dem Fußboden nervt. Wir würden, wenn überhaupt, die Eltern höflich darauf aufmerksam machen. Denn wer in Deutschland ein fremdes Kind die Grenzen des guten Miteinanders aufzeigt, der kann sich mit den Eltern des kleinen Rotzlöffels richtig Ärger einheimsen. „Sie haben wohl selbst keine Kinder!“ gehört dabei noch zu den harmlosen Reaktionen. Hier würde der vom Geräusch genervte Erwachsene dem Kind, wenn es in unmittelbarer Reichweite mit dem Löffel herumhantiert, das Essbesteck einfach aus der Hand nehmen und es freundlich darauf hinweisen, dass man das nicht macht – quittiert mit einem zustimmenden Nicken von Vater oder Mutter der kleinen Nervensäge, sodass die Kinder mit einem Verantwortungswurstsein für ihren Teil in einer Gesellschaft aufwachsen. Entsprechend angenehm geht es hier in öffentlichen Räumen zu. Erwachsene und Kinder machen einfach ihr Ding.

Wenn die Erziehung von Kindern nicht auch als Aufgabe aller gesehen wird, dann gibt es kein Gemeinschaftsgefühl mehr.

In Deutschland hingegen gibt es bereits Gastronomen, die keine Kinder mehr in ihrem Räumen dulden. Wir können das, obwohl wir selbst Eltern sind, verstehen. Denn wenn die Erziehung von Kindern nicht auch als Aufgabe aller gesehen wird, dann gibt es kein grundsätzliches Gemeinschaftsgefühl mehr. Dann wird einfach weggeschaut, wenn der kleine Torben sich wütend vor der auf Kinderaugenhöhe an der Supermarktkasse aufgereihten Quengelware auf die Erde schmeißt. Es gibt tatsächlich Eltern, die schämen sich in solchen Momenten für ihren Nachwuchs. Und Menschen, die die Eltern von Torben und Co. mit vorwurfsvollen Blicken strafen. Niemand beschwert sich allerdings beim Geschäftsführer des Supermarkts oder beim Konzern, der bereits Kleinkinder gezielt zum Kauf von Zuckerzeug und Plastikmüll verführt und sich so seine künftigen Konsumenten heranzieht.

Wir haben nichts dagegen, dass ein freundlicher Erwachsener Jaguar die heimlich gemopste Kuchengabel aus der Hand nimmt, mit der sie an der Tapete kratzt und ihr sagt, dass sie das nicht darf. Wir glauben auch nicht daran, dass Jaguar in Gruppen mit so klangvollen Namen wie Honigbärchen, kleine Kobolde oder Löwenzähnchen, in denen sie ausschließlich mit Gleichaltrigen spielt, viel Förderliches erfährt, wenn es um Selbstbewusstsein und -verantwortung geht. Kinder sind nicht nur an Gleichaltrigen interessiert und sie benötigen auch keine Anweisungen, sondern schlicht Vorbilder.

Jaguar steht manchmal längere Zeit bei Erwachsenen und schaut ihnen gebannt bei ihrer Tätigkeit zu. Sie wandelt zwischen den Welten der Großen und Kleinen, der Kulturen und Sprachen. Es ist ihr Weg ins Leben, von dem wir nicht wissen, was es bereithält. Was wir jedoch tun können, ist, ihr die schmerzlichen Erfahrungen nicht zu verweigern. Nur so lernen Kinder, das Leben mit seinen Höhen und Tiefen zu leben, ohne die Lust daran zu verlieren.


Δ Annika und Michel Ruge

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