Auf der Polstergarnitur des Ungefährlichen

Unsere Autorin denkt darüber nach, was Mut ist, wofür es sich lohnt, ihn zu beweisen – und was sie zurückhält.

von Mika Bell

Vor einigen Monaten saß ich mit Freunden zusammen und diskutierte die Frage: „Wollen wir mal zum Sommerfest der Neuen Rechten in Schnellroda?“ Das Interesse an den Verteufelten und der Location im Plattland Sachsen-Anhalts war groß. Uns fesselte die Idee, im „Institut für Staatspolitik“ zwischen 400 verrufenen Menschen einen Tag zu verbringen – wir wollten uns in die Schlangengrube wagen.

Am Ende machten wir es nicht. Uns, ganz speziell mir, fehlte der Mut. Doch was genau ist das eigentlich? Was macht der Mut, dass er mich tun lässt, was ich will, wie kappt er die Verbindung zum ausbremsenden „Lieber doch nicht“?

Die Mutter des Mutes ist die Unzufriedenheit. Sie erwächst aus der ständigen Wiederholung eines Alltages. Sein Vater ist der Drang zur Veränderung. Er bricht in das Leben, wenn Neues in der Ferne zu sehen ist. Treffen beide zusammen, gebären sie den Mut, der der Zukunft den Vorrang vor der Vergangenheit gibt. Mut ist immer ein Schritt zur Veränderung.

Mut braucht es immer nur für den nächsten Schritt.

Am Anfang steht eine Frage, eine Idee, ein Plan für die Zukunft – das mit der Zeit größer werdende oder immer wieder auftauchende „Soll ich?“ Es braucht keinen Mut, um sich zwischen gleichberechtigten Alternativen zu entscheiden. Mut existiert, um das sichere Plateau des Ist-Zustandes verlassen zu können und nach vorn zu gehen. Dahin, wo konkrete Ideen auf ihre Verwirklichung warten oder das Flirren des Neuen Freiheit und Selbstbestimmung verheißt.

Mut braucht es nicht für komplette Vorhaben oder das große Ganze. Mut braucht es immer nur für den nächsten Schritt. Der erste ist bekanntlich der schwerste. Wenn er getan ist, geht es von allein weiter, weil nicht nur das Selbst, sondern auch das Umfeld in Gang gekommen ist.

Mut löst Zurückhaltung auf. Diese ist wie eine dicke Metallfeder, die an die Vergangenheit kettet und deren Spannung sich erhöht, je länger die Zukunft lockt. Nur ein Schritt trennt vom aufrechten Gang des Mutigen. Doch gebunden an die Bequemlichkeit der Gegenwart, an eine Melange aus Sicherheit und Faulheit – die Polstergarnitur des Ungefährlichen – bewegt sich der Veränderungswillige nicht. Es scheint, als hätte Mutter Unzufriedenheit in einer Affäre mit der Lethargie ein weiteres Kind gezeugt: den inneren Schweinehund, der mit dem Mut ein Tauziehen um die Zukunft veranstaltet. Der Schweinehund ist die Feder, die mich hält. Der Mut, der Bolzenschneider, der mich befreit.

Ist die Anspannung allzu groß, wird der Mutige zur Rakete, die über das Ziel hinauszuschießen imstande ist. Mut verlangt nach Vernunft und muss gut dosiert sein. Denn Mut hat Konsequenzen. Kostet er nichts, ist er Gratismut und damit nicht mehr als Angeberei.

Wer sich aus der Sicherheit des Kollektivs dem „Bösen“ gegenüberstellt, der will meist nur zeigen, dass er zu den Richtigen gehört. Mutig ist, wer sich aus Überzeugung auch gegen die Mehrheit äußert.

Mut ist nicht messbar. Als Schritt ist er ein subjektives Gefühl. All seinen Mut nimmt man zusammen, um diesen einen ersten Schritt zu gehen: eine Kündigung, ein öffentliches Nein, das Nicht-Erscheinen auf einer Familienfeier. Wir betrachten Menschen als mutig, die Entscheidungen treffen, die wir gern auch treffen würden, zu denen wir uns aber nicht in der Lage sehen und vor deren Folgen wir uns scheuen. Was als mutig angesehen wird, ist abhängig vom Beobachter und von der Kultur, in der er lebt. So können Attentäter in den Augen von Islamisten „mutig“ erscheinen, während wir sie als „radikal“ beschreiben. Mut ist positiv besetzt.

Wer sich aus der Sicherheit des Kollektivs dem „Bösen“ gegenüberstellt, der will meist nur zeigen, dass er zu den Richtigen gehört.

Innerlich ist Mut die Fokussierung auf einen einzigen Schritt. Doch gerade der fällt uns so schwer, weil wir dazu neigen, nach außen zu sehen und andere Menschen in den Fokus zu nehmen. Wir stellen fest, dass diese scheinbar mit allem zurechtkommen oder dass es andere noch schlechter haben. Und so verbringen wir Jahre damit, beobachtend neben anderen herzulaufen und uns damit zu beruhigen, dass es schlimmer sein könnte. Doch wo kommen wir dann an? Wir landen mit der Masse der Mitgelaufenen im schwarzen Loch der ungenutzten Möglichkeiten.

Um unser Leben wahrhaftig zu leben und unsere Werte ernsthaft zu vertreten, braucht es Mut. Dieser kann, wenn wir zu lange warten, durch einen Stoß von hinten ersetzt werden. Durch sich ändernde Umstände oder die Entscheidungen anderer Menschen werden wir zur Veränderung gezwungen. Unser Handeln ist dann jedoch Reaktion und nicht souveräne Aktion. Mut ist aber eine selbst getroffene Entscheidung. Mit Mut wird der Mensch vom Getriebenen zum Voranschreitenden. Mut befreit.

Anders der Übermut, der zwar auch eine kurze Befreiung, doch am Ende oft mehr Schaden als Fortschritt bringt. Übermut ist Mut ohne Verstand. Er ist ein Impuls, oft Affekt, mehr Emotion als Ratio. Er ist Aktion ohne Ziel, ein ungezielter Schuss. Übermut ist ein Ventil, das der Entladung dient und nicht dem Vorschub in eine neue Richtung. Während Mut kalkuliert, ist Übermut mehr Trotz als Plan – er schießt nach vorn, nur um zu schießen.

Ich sammle meine Kraft, um mutig in den Herbst zu gehen.

Was mich vor allem zum Sommerfest in Schnellroda trieb, war das ungeschriebene Verbot. Ich wäre aus Trotz gefahren, allein mit dem Ziel, es getan zu haben. Aus Übermut.

Also fuhr ich nicht. Im Nachhinein sah ich die Besucher des Sommerfestes, aufgenommen von Randfotografen, eingestellt ins Netz. Zum Glück hängt kein Bild von mir an diesem Pranger und ich muss mich nicht mit Nazivorwürfen auseinandersetzen. Stattdessen sammle ich jetzt meine Kraft, um mutig in den Herbst zu gehen. Corona-, Kriegs- und Energiesparmaßnahmen warten auf Widerspruch. Dann wird es Mut brauchen, um in einem Chor der Zustimmung zum eigenen Nein zu stehen.


Δ Mika Bell

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