Darf’s ein bisschen mehr sein?

„Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin, denn dick sein ist ‘ne Quälerei“, sang schon Marius Müller-Westernhagen. Aber ist Fettleibigkeit auch eine soziale Identität, die mit besonderen Rechten einhergehen sollte? Für ALIAS spürt der amerikanische Autor Joe Lombardo dieser Frage nach.

von Joe Lombardo

Zahlreiche amerikanische Veteranen kehrten aus dem Zweiten Weltkrieg mit Verletzungen zurück, die sie dauerhaft beeinträchtigten. Zu dieser Zeit gab es für Veteranen nur wenige öffentliche Einrichtungen, und entsprechend gering fiel der öffentliche Aufschrei aus. Doch während der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren schlossen sich behinderte Vietnamkriegs-Heimkehrer dem allgemeinen Kampfesgeist an, der damals herrschte, und griffen zu Hämmern und anderen Werkzeugen, um damit Bordsteine zu zertrümmern und rollstuhlgerechte Rampen zu errichten.  

1968 verabschiedete die US-amerikanische Regierung den Architectural Barriers Act, um die seit langem anhaltenden Missstände zu beseitigen, auf die Veteranen aufmerksam gemacht hatten. Das ebnete den Weg dafür, alle staatlichen Gebäude für Behinderte zugänglich zu machen. Es dauerte aber noch 22 Jahre, bis Washington den Americans with Disability Act (ADA) verabschiedete, der den gesetzlichen Rahmen erweiterte, um Menschen mit Behinderungen unter anderem das Recht auf Beschäftigung zu ermöglichen. Die Veteranen waren der Auslöser dafür, nicht nur verwundeten Soldaten den Zugang zu öffentlichen und privaten Einrichtungen zu gestatten, sondern allen Menschen mit Behinderungen.

Wie der Historiker David A. Gerber festgestellt hat, schlossen kriegsversehrte Veteranen sich damals zu einer Gemeinschaft zusammen, weil sie ihre Notlage als Diskurs über Rechte betrachteten – nicht über Privilegien. Die Unterscheidung zwischen Rechten und Privilegien ist sinnvoll, denn anders als bei einem Privileg folgt aus einem Recht eine Pflicht oder Verantwortung des Staates gegenüber einer bestimmten Gruppe von Bürgern. Nach dem ADA etwa verbieten die USA einer großen Bandbreite von öffentlichen und privaten Organisationen, Menschen mit Behinderungen zu diskriminieren. Daher können US-amerikanische Bürger mit Behinderungen rechtmäßig gegen eine Vielzahl von Unternehmen vorgehen, die ihnen die Arbeitssuche erschweren. Menschen mit Behinderungen – seien diese nun das Ergebnis einer unheilbaren Krankheit, einer Behinderung der Gliedmaßen oder anderer Umstände – sind im wahrsten Sinne des Wortes nicht in der Lage, ihre Lebensumstände zu verändern. Daher werden Rechte wie jene auf das Entgegenkommen der Gesellschaft, auf Beschäftigung und andere konkrete Maßnahmen in dem Bewusstsein ergriffen, dass sie aus einer sozialen und politischen Verantwortung herrühren.

Die Body-Positivity-Bewegung will glaubhaft machen, dass fettleibige Personen eine soziale Identität teilen.

Die zeitgenössische Body-Positivity-Bewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Vielfalt der Menschheit in Bezug auf ihre Fähigkeiten und andere Merkmale zu feiern, geht noch einen Schritt weiter, als es die ethischen Pflichten des Staates vorgeben. Diese Bewegung ist in der heutigen amerikanischen Gesellschaft eine mächtige und notwendige Kraft, die ein Narrativ gestaltet, das viel mehr umfasst als öffentliche Empathie oder gar Mitleid. Irgendwo zwischen dem Bedürfnis nach Rechten und dem Anerkennen von Behinderungen findet sich aber noch etwas anderes: eine problematische Interpretation von Fettleibigkeit.

Die Body-Positivity-Bewegung will glaubhaft machen, dass fettleibigen Personen dasselbe Recht auf ein Entgegenkommen der Gesellschaft zusteht wie Behinderten, dass sie Opfer von Intoleranz seien, und vor allem: dass sie eine soziale Identität teilen. Fettaktivisten, wie sie sich selbst bezeichnen, verwenden, um ähnliche Zugangsrechte zu erhalten, die gleiche Rhetorik wie die Community der Behinderten. Die Rechte, die sie einfordern, reichen von breiteren Sitzplätzen in Flugzeugen bis hin zur Bestrafung sogenannter unbewusster Mikroaggressionen. Doch wenn es um gepolsterte Labor-Fußböden für übergewichtige Wissenschaftler geht, wird spätestens klar: Uns fehlt eine Definition davon, was genau Fettleibigkeit ist.

In den Vereinigten Staaten hören wir heute ständig von einer wachsenden Fettleibigkeits-Epidemie. 42 Prozent der Erwachsenen in Amerika werden vom Center for Disease Control als fettleibig eingestuft. Die Kosten für die medizinische Versorgung belaufen sich in diesem Bereich auf 173 Milliarden Dollar, eine Zahl, die vermutlich weiter ansteigen wird. Fettleibigkeit ist eine metrische Größe, die sich numerisch als Body-Mass-Index von mindestens 30 Prozent ausdrücken lässt. Das bedeutet, das Körpergewicht besteht in so einem Fall zu 30 Prozent oder mehr aus reinem Fettgewebe oder Fett.

Starkes Übergewicht führt häufig zu anderen Leiden oder Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Herzerkrankungen. Während die Ursachen für Fettleibigkeit manchmal in Form von Drüsen- oder Hormonstörungen (oder sogar genetischen Defekten) gefunden werden, rührt sie in den allermeisten Fällen schlicht daher, dass die Betroffenen zu viel essen und/oder sich zu wenig bewegen. Es gibt zwar bestimmte medizinische Eingriffe, um übermäßiges Fett zu reduzieren, wie zum Beispiel die Adipositas-Chirurgie. Dennoch herrscht unter Wissenschaftlern Einigkeit darüber, dass richtige Ernährung und körperliche Betätigung die wirksamsten Mittel sind, um schlanker und gesünder zu werden. Schon Hippokrates, Begründer der Medizin, wusste, dass die Lösung für Fettleibigkeit in richtiger Ernährung und ausreichend Bewegung liegt.

Von anderen Behinderungen unterscheidet starkes Übergewicht sich dadurch, dass es umkehrbar ist.

Nur wenige versuchen, den geistigen und philosophischen Aspekt, der sich hinter diesem Urteil verbirgt, näher zu betrachten. Wie bereits erwähnt: Fettleibigkeit wird heute gesellschaftlich als etwas umgestaltet, das nicht nur medizinisch behandelt werden muss, sondern eine Identität darstellt. Von anderen Behinderungen unterscheidet sich starkes Übergewicht aber dadurch, dass es umkehrbar ist.

Wenn Fettleibigkeit sich als eine Frage von Maßen und Proportionen erweist, dann handelt es sich hier um ein Problem, das in erster Linie visuell diagnostiziert wird. Wir haben eine angeborene Vorstellung davon, wie ein gesunder oder ästhetisch ansprechender Körper aussehen sollte. So ein instinktives Wissen bezeichnete Platon als „Ideen“.

Platonische Ideen existieren metaphysisch. Wir wissen zum Beispiel, dass es kein Problem darstellt, einen menschlichen Körper, der athletisch ist, in eine Reihe von anderen Körpern mit ähnlicher Ästhetik einzuordnen. Diese Körper sind sämtlich auf ihre eigene Art unterschiedlich, weisen jedoch alle in Richtung der Kategorie „athletischer Körper“. Allerdings handelt es sich bei keinem von ihnen um die perfekte Idee der Athletik, denn Ideen existieren für Platon nur in einer nicht-materiellen Realität – sie sind Ideale. Was wir mit unseren Augen wahrnehmen, sind lediglich die Schatten oder unvollkommenen Spiegelungen einer bestimmten Idee, die wir „athletisch“ nennen. Auf diese Weise lässt sich ein fettleibiger Körper als etwas Sichtbares definieren, das mit Körpern anderer Maße oder Proportionen verglichen werden kann. Darin liegt einer der Gründe, warum Fettaktivisten sich oft für sogenannte Größenvielfalt einsetzen.

Wenn Fettleibigkeit eine Krankheit ist, die durch den Verzehr überschüssiger Kalorien in Verbindung mit einem geringen Maß an körperlicher Aktivität entsteht, dann handelt es sich bei ihr objektiv um einen formbaren Zustand. Der Philosoph Peter Sloterdijk unterstreicht diesen Punkt in seinem Buch „Du musst dein Leben ändern“, wenn er auf die autoplastische Natur des Menschen verweist. Es liegt im Wesen des Menschen, dass er seine Identität selbst formt. Wir haben eine Vorliebe für Gewohnheiten – wir üben sie aus, reagieren auf und etablieren sie. Erst durch diesen Selbstbildungsprozess entstehen eine Kultur und eine Ethik, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Dazu ist allein der Mensch imstande.

Schon die alten Griechen wussten, dass die Olympischen Spiele mehr als nur eine sportliche Darbietung waren.

Einzigartig für unsere Spezies ist auch unsere Fähigkeit, abstrakt zu denken. Deshalb können wir zum Beispiel geistig Bilder unserer Körper entstehen lassen, die uns in einer natürlichen Umgebung nicht ohne weiteres begegnen würden. Dies zeigt sich im modernen Bodybuilding, einer Sportart, die für ihre übertriebenen Körperformen bekannt ist. Es gibt einen philosophischen Grundsatz, dem jeder Bodybuilder folgt: Er entwirft ein Bild davon, wie man aussehen sollte und wie dieses Ziel durch Training und entsprechende Ernährung zu erreichen ist.

Unsere Plastizität, wie Sloterdijk es ausdrückt, stellt gleichzeitig das dar, was einen Zustand wie Fettleibigkeit so uninteressant macht: Sie ist ein Missbrauch unseres Körpers. Selbst Menschen, die behindert oder unheilbar krank sind, können noch an Praktiken teilhaben, die ihre Gesundheit fördern. Ein gutes Beispiel dafür sind die britischen Veteranen des Zweiten Weltkriegs, die 1948 erstmals eine Veranstaltung organisierten, die später unter dem Namen „Paralympics“ bekannt werden sollte. Im Jahr 1980 richteten dann behinderte US-amerikanische Veteranen die ersten Rollstuhl-Wettkämpfe aus. Es verwundert also nicht, dass die Verbindung zwischen Militär und Sport eng ist – beide erfordern eine Ausrichtung des Körpers auf ein Ziel oder einen Zweck hin.

Das mag auch der Grund sein, warum die Sportart CrossFit in den Vereinigten Staaten einen beispiellosen Erfolg unter Soldaten, Matrosen und Feuerwehrleuten erlebt hat. Doch schon die alten Griechen wussten, dass die Olympischen Spiele mehr als nur eine sportliche Darbietung waren. Immer hatten diese Wettkämpfe auch theologische und staatsbürgerliche Untertöne, bei denen es um Verehrung und Pflichten ging. In seinem Buch „Lob des Sports“ stellt Hans Ulrich Gumbrecht fest, wie religiöse Begeisterung – oder Lob – und die Zurschaustellung sportlicher Leistungen bereits in den Gedichten von Pindar gemeinsam auftreten. Für Gumbrecht besitzt der athletische Körper etwas, das den höchsten Ausdruck von Kultur darstellt. Dies mag auch erklären, warum CrossFit-Enthusiasten in ihrem Eifer für Bewegung oft kultisch anmuten.

Der Mensch muss leiden, um weise zu sein.

Die alten Griechen haben sehr richtig das ethische Substrat des athletischen Körpers in ihrem Konzept des „Agon“ erkannt (von dem sich der Begriff „Agonie“ ableitet). „Agon“ bedeutete im Griechischen das, was ein Bodybuilder oder eine Bodybuilderin äußern, wenn sie über ihr Trainingsprogramm sprechen: „Es ist ein Leiden, ein Kampf“. Aber im Gegensatz zur negativen Konnotation des Wortes „Agonie“ im Deutschen wurde Agon im antiken Griechenland als etwas angesehen, das ein Gefühl von körperlicher Gesundheit hervorruft und eine Voraussetzung für Erleuchtung ist. Wie Aischylos in „Der gefesselte Prometheus“ schreibt: „Der einzige Weg, auf dem die Weisheit liegt; der eine ewige Plan: Der Mensch muss leiden, um weise zu sein.“

Wenn körperliche Ertüchtigung als diese Form moralisch aufgeladener kinetischer Energie dient, dann befindet der Körper sich in einer zielgerichteten Bewegung. Und zwar gerade deshalb, weil wir nach diesen Zielen streben, egal wie wenig sie sich kurzfristig zeigen mögen. Thomas von Aquin erkannte dies, als er über die Schönheit schrieb: „Ein Ding ist nicht schön, weil wir es lieben; vielmehr wird ein Ding von uns geliebt, weil es schön ist.“ Aquin fährt fort: „Unser Wille ist nicht die Ursache der Dinge, sondern wird von ihnen bewegt“.

Der Begriff „Agonie“ beschreibt die Idee einer zielgerichteten, nützlichen Aktivität oder das, was Aristoteles und Aquin als „gute Gewohnheiten“ verstanden. Wir könnten Fettleibigkeit im Umkehrschluss als etwas betrachten, das aus schlechten Gewohnheiten oder einem Mangel am Guten resultiert. In anderen Worten: als persönliche Praktiken in unserem Leben, die uns nicht zu einem tugendhaften Leben führen oder uns nicht das erreichen lassen, was die Griechen „Eudaimonie“ nannten, sondern von einem schweren Mangel an selbigem zeugen. Nach Sokrates entscheiden wir uns unbewusst dafür, zu irren oder Unrecht zu tun. Es sind unsere Unzulänglichkeiten, unser Unwissen oder ähnliche unglückliche Umstände, die uns daran hindern, das Gute im Leben wie Weisheit und Gesundheit zu erlangen. Fettleibigkeit ist „falsch“ in einem sokratischen Sinne, weil sie das Produkt des Makels ist, nicht vollends nach dem Guten zu streben. Aber dieses Konzept des falschen oder unvollständigen Guten lässt auch einen gewissen analytischen Spielraum, um nicht-ethische Weisen erörtern zu können, mit denen Fettleibigkeit sich philosophisch fassen lässt.

In „The Body Keeps Score“ des niederländischen Psychiaters Bessel van der Kolk tritt die psychosomatische Natur von Fettleibigkeit oft als Ergebnis eines tief erlebten Traumas auf. Van der Kolk beschreibt, wie krankhaft fettleibige Gefängnisinsassen absichtlich fettleibig wurden, um sich vor Vergewaltigern zu schützen. Er weist auch darauf hin, dass generell viele Opfer sexuellen Missbrauchs oder sexueller Gewalt zur Fettleibigkeit neigen, weil sie sich durchs Essen sicher fühlen. Krankhaftes Übergewicht könnte demnach das bedauerliche Ergebnis solcher Handlungen oder Reaktionen sein, die wiederum das Resultat eines emotional und körperlich herausfordernden Lebens sind.

Im Zustand der Sättigung kann es nur Verfall geben.

Es gibt auch einen scheinbar harmloseren Aspekt, der eng mit dem Thema Befriedigung verbunden ist. Befriedigung kann man als eine sich mit der Zeit auflösende Einstellung verstehen, die nach dem Erreichen eines Ziels eintritt. Ein Beispiel dafür wäre eine Person, die ihren Körper in der Hoffnung, einen Partner zu finden, in Form bringt und sich gehen lässt, sobald sie ihr Ziel erreicht hat. Diese Art von „befriedigten“ Einstellungen bezeichnete Epikur als statische Lust oder als letzte Zwecke. Es gab für Epikur aber noch eine andere Art von Lust, die er „Lust in Bewegung“ nannte und mit der er das Vergnügen am Vorgang selbst meinte. Man könnte den Körper wohl in die letztgenannte Kategorie der Lust einordnen, da er sich entweder in konstantem Verfall oder kontantem Wachstum befindet – bis hin zum Schicksal des Todes, das wir alle teilen.

Den Körper herauszufordern, ist eine Aufgabe, die Orientierung und Zielführung voraussetzt. In Ermangelung von Herausforderungen oder, um es offen zu sagen, im Zustand der Sättigung kann es nur Verfall geben. Die Frage, die wir uns stellen und mit unserem Körper beantworten müssen, lautet deshalb: Wann tritt dieser Verfall ein?

Bei den alten Griechen und auch in vielen anderen Kulturen existierte ein bestimmter Rhythmus des Lebens, der sich von Natur aus wiederholte. Dieser Gedanke, der später von Friedrich Nietzsche aufgegriffen wurde, ist als „ewige Wiederkehr“ bekannt geworden. Es ging hier um die sich wiederholenden Stadien der Materie, des Lebens, der Handlungen und so weiter – ein ständiges Geborenwerden und Sterben. Aber in Nietzsches Darstellung verschiebt sich der Akzent in Richtung des Existenziellen und Metaphysischen. In Aphorismus 341 aus „Die fröhliche Wissenschaft“ schildert dieser Philosoph eine eindringliche Szene:

Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe und Folge (…) Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« (…) Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: „willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest du dir selber und dem Leben gut werden?


Δ Joe Lombardo

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