Wofür würden wir kämpfen?

In Krise und Krieg zeigt sich: Freiheitliche Gesellschaften können es sich nicht leisten, ihre Bürger wie Untertanen zu behandeln.

von Kolja Zydatiss

Das Spiel wird im Kopf entschieden“, lautet ein Boris Becker zugeschriebenes Diktum. Gilt das auch für militärische Konfrontationen? Tatsächlich bestimmen neben Glück, Ausrüstungsgrad und bloßer Zahlenstärke auch sozialpsychologische Faktoren den Ausgang kriegerischer Auseinandersetzungen, wahrscheinlich sogar wesentlich. Warum etwa werden arabische Armeen immer wieder zerschlagen, selbst von zahlen- und ausrüstungsmäßig drastisch unterlegenen Gegnern?

Auch in der Ukraine stehen sich zwei ungleiche Gegner gegenüber, und David hat keine schlechten Chancen, Goliath aufzureiben und in die Flucht zu schlagen. Jeden Morgen lese ich in den Nachrichten, dass die demokratisch gewählte Regierung von Wolodimir Selenski weiterhin die Stellung hält. Normale Bürger greifen zu den Waffen, basteln Molotowcocktails, montieren Straßenschilder ab, schalten russische Saboteure aus und stellen sich sogar unbewaffnet den russischen Fahrzeugen entgegen. Die ukrainischen Kommandostrukturen scheinen zu funktionieren. Nach dem vom Wladimir Putin (und – zynischer Gedanke – wohl auch von Teilen der SPD, Linkspartei und AfD) erhofften Blitzsieg sah es schon sehr früh nicht mehr aus.


Wenn unvollkommene Demokratien in den Krieg ziehen


In Krisenzeiten rücken Gesellschaften zusammen, vor allem wenn sie das Gefühl haben, ihnen werde kollektiv ein großes Unrecht angetan. Das gilt auch für marode, schlecht regierte, von großer sozialer und materieller Ungleichheit geprägte Gesellschaften. In seinem buchlangen Essay „The Lion and the Unicorn: Socialism and the English Genius“, verfasst 1940/41 während der Luftschlacht um England, äußerte der Schriftsteller George Orwell seine Befürchtungen hinsichtlich einer Untergrabung der britischen Wehrfähigkeit im Kampf gegen Hitler durch kurzsichtige Kapitalinteressen und die Klassenstruktur der britischen Gesellschaft – und seine Hoffnung, dass eine sozialdemokratische Politik diese Klassenunterschiede am besten schon während des Krieges überwinden könne.

Die Abhandlung enthält einige der einprägsamsten Orwell-Zitate. Sie beginnt mit den Worten: „Während ich dies schreibe, fliegen hochzivilisierte Menschen über meinem Kopf hinweg und versuchen, mich zu töten.“ England beschreibt der Autor als die „am stärksten in Klassen erstarrte Gesellschaft unter der Sonne“. Aber – und das ist der springende Punkt – angesichts der sehr realen Möglichkeit einer Eroberung durch das nationalsozialistische Deutschland beginnt dieses altmodische Land mit seinen schlecht ausgerüsteten Truppen, seinem von der Hand in den Mund lebenden Industrieproletariat und seiner dekadenten und weltfremden Oberschicht als Kollektiv zu handeln.

„Eine Pressezensur gab es auch nach Kriegsausbruch in Großbritannien kaum – nahezu alles konnte frei geäußert werden, von Hitler-Versteherei über Radikalpazifismus bis zu stalinistischen Positionen.“

In Momenten der größten Krise, schreibt Orwell, fühlen alle Einwohner Großbritanniens das gleiche. „Die Nation ist durch eine unsichtbare Kette miteinander verbunden.“ Spätestens mit dem Kraftakt der Evakuierung von Dünkirchen und den Vorbereitungen auf die deutsche Invasion sei der britische Riese aus seinem Schlaf erwacht und wachse an der Herausforderung, die „mächtigste Kriegsmaschinerie, die die Welt je gesehen hat“, zurückzuschlagen.

Orwell führt die „Solidität und Homogenität Englands“, den „Patriotismus, der sich wie ein roter Faden durch fast alle Klassen zieht“, nicht auf eine Kontrolle von Presse und politischen Diskursen, nicht auf die Einschüchterung von Andersdenkenden zurück (eine Pressezensur gab es, wie der Autor hervorhebt, auch nach Kriegsausbruch in Großbritannien kaum – nahezu alles konnte frei geäußert werden, von Hitler-Versteherei über Radikalpazifismus bis zu stalinistischen Positionen). Im Gegenteil, schreibt Orwell, die Stärke des Vereinigten Königreichs sei sein Glauben an Begriffe wie Recht und individuelle Freiheit, seine Demokratie, und sei sie auch noch so unvollkommen.

Die lockere Demokratie Britanniens mit ihren Streiks und ihrer Parteipolitik war für Orwell etwas fundamental anderes als die gleichgeschalteten Staaten Mussolinis und Hitlers mit ihrer Geheimpolizei, ihrer Zensur, ihrer Zwangsarbeit. Trotz allen Elendsvierteln, bei aller Arbeitslosigkeit, trotz aller Trägheit und Ungerechtigkeit, die das England seiner Zeit auszeichneten: „Wenn es hart auf hart kommt, kann niemand, der in der westlichen Tradition aufgewachsen ist, die faschistische Vision des Lebens akzeptieren.“

„Zur Mobilisierung gegen Nazideutschland, Italien und Japan mussten schwarze Amerikaner ebenso wenig gezwungen werden wie englische Industriearbeiter.“

Zum Zusammenhalt an Front und Heimatfront trügen auch gemeinsame kulturelle und moralische Annahmen bei, von der Wertschätzung der Privatsphäre über die Kneipenkultur bis zur Ablehnung von Antisemitismus. Außerdem: Die ersten Anzeichen während der Zwischenkriegsjahre, dass die traditionellen Klassenunterschiede am Verblassen und Wohlstand für alle möglich sei. Orwell hebt die überall entstandenen Neubauviertel hervor, und den dort von einer neuen technischen Intelligenz, zum Beispiel Chemikern, Piloten oder Flugzeugmechanikern, gepflegten fortschrittlichen Lebensstil. Dessen Merkmale höben sich stark von den herkömmlichen englischen Sozialmilieus ab. Unter anderem durch günstige Autos aus der Massenproduktion, arbeitssparende Geräte, Essen aus Konservendosen und die „nackte Demokratie“ der öffentlichen Schwimmbäder.

In den USA war die Dynamik eine ähnliche. Afroamerikaner und weiße US-Bürger kämpften Seite an Seite gegen die Faschisten. Zur Mobilisierung gegen diese Feinde des „American Way of Life“ mussten schwarze Amerikaner ebenso wenig gezwungen werden wie englische Industriearbeiter. „Vor dem Vietnamkrieg waren die Kämpfe um die Gleichberechtigung der Schwarzen eng verwoben mit Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit, Männlichkeit und Militärdienst“, erklärt die amerikanische Historikerin Lauren Mottle. Dieser Ethos sei in der sogenannten Double V Campaign verkörpert worden, einer vor allem von schwarzen Zeitungsherausgebern vorangetriebenen Kampagne für einen doppelten Sieg der Demokratie zu Hause und in Übersee. Laut einer Meinungsumfrage von damals stimmten 91 Prozent der Afroamerikaner diesen Bestrebungen zu.


„No Viet Cong ever called me nigger“


Beim weitaus schwächer moralisch legitimierten Vietnamkrieg sah die Sache anders aus. Viele junge Afroamerikaner, trotz einiger Fortschritte noch immer Bürger zweiter Klasse, hatten die Geduld mit ihrem Land verloren und definierten sich über ihren Widerstand gegen den Krieg und die Wehrpflicht. Berühmt geworden ist ein Ausspruch, der dem Boxer Muhammad Ali zugeschrieben wird: „No Viet Cong ever called me nigger.“ Unabhängig davon, ob er dies tatsächlich sagte: Um den Kriegsdienst verweigern zu können, war Ali bereit, ins Gefängnis zu gehen und seine Karriere als Profisportler zu opfern.

Pluralistische westliche Demokratien sind in der Lage, die verschiedensten sozialen Schichten und Milieus in eine nationale Kriegsanstrengung zu integrieren. Vor allem dann, wenn die Ideologie des äußeren Feindes als eine Bedrohung für die zivilisatorischen Errungenschaften der eigenen Gesellschaftsform erkannt wird. Interessanterweise weisen auch Menschengruppen, die zu den Verlierern der Gesellschaft gehören, oft eine hohe Motivation auf, unter extremen Bedingungen ihrem Land zu dienen – im Hinterkopf stets die Möglichkeit des „ultimate sacrifice“. Aber die Duldsamkeit der Menschen ist nicht unendlich. Muhammad Ali weigerte sich, für ein Land in den Krieg zu ziehen, in dem er nicht an einem Hamburger-Stand bedient wurde.

„Orwell schrieb von der einenden Kraft gemeinsamer Moralvorstellungen und kultureller Gepflogenheiten.“

Orwell schrieb von der einenden Kraft gemeinsamer Moralvorstellungen und kultureller Gepflogenheiten. In Deutschland sind diese stark unter Beschuss geraten, durch die von tonangebenden Kreisen vorangetriebene Identitätspolitik, die alles Verbindende und Verbindliche auflösen will, aber auch durch die wachsende Selbstdesintegration vor allem muslimisch geprägter Einwanderer.

Orwell betonte die Strahlkraft von Individualrechten und Demokratie (selbst wenn die gelebte Praxis zu wünschen übrig ließe). Auch hier hat es in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen extremen Rollback gegeben (notdürftig verschleiert durch die Neudefinition des Demokratiebegriffs von einem System politischer Repräsentation zu einer diffusen moralischen Haltung). Die jüngste Berliner Chaoswahl mit geschätzten Meldeergebnissen, die Verwandlung Deutschlands und anderer westlicher Staaten in Gesundheitsregimes mit über Jahre stark eingeschränkten Grundrechten sowie die farcehafte Krönung der amtierenden EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen in einem Brüsseler Hinterzimmer 2019 – all dies sind nur einige der jüngeren Tiefpunkte, die einen fragen lassen, ob wir noch in einer offenen und demokratischen Gesellschaft leben.

Orwell argumentierte, dass die voluntaristische „Blut, Schweiß und Tränen“-Rhetorik der britischen Regierung bei der Arbeiterklasse auch deshalb verfing, weil die Vorkriegsordnung des Vereinigten Königreichs über sich selbst hinaus wies – auf die Möglichkeit einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft in einem durch soziale Reformen eingehegten oder gar überwundenen Kapitalismus. Es ist offensichtlich, dass dieses Wohlstandsversprechen für die breite Masse von der heutigen politischen Klasse nicht einmal mehr angestrebt wird (und unter ökologischen Gesichtspunkten auch nicht für wünschenswert gehalten wird). Und so führt berechtigte Unzufriedenheit mit den eigenen Eliten dazu, dass einige verwirrte Westler hoffnungsvoll gen Osten schielen. No Russian ever asked me for my Impfnachweis …


Kämpfen – wofür eigentlich?


Der immer erratischer agierende russische Diktator scheint zu ungeahnten Grausamkeiten fähig, von der Verwandlung ukrainischer Städte in Trümmerwüsten bis zum atomaren Erstschlag gegen europäische Metropolen. In Deutschland wird deshalb noch immer viel über die Aufrüstung der Bundeswehr gesprochen. Die Regierung unter Olaf Scholz hat in atemberaubendem Tempo eine Abwendung vom Kurs ihrer Vorgänger umgesetzt.

Im militärischen Fall der Fälle kommt es aber eben nicht nur auf die Ausstattung der Truppen an. Ebenso ausschlaggebend ist die innere Verfasstheit einer Gesellschaft. „Then conquer we must, when our cause it is just”, heißt es in der (selten gesungenen) vierten Strophe der amerikanischen Nationalhymne: „Dann müssen wir siegen, wenn unsere Sache gerecht ist.“ Das blau-gelbe Fahnenmeer, das uns entgegenschlägt, die breite Front der über den russischen Einmarsch Empörten, die in Deutschland vom Linkspartei-Veteran Gregor Gysi bis zu den Herausgebern der rechtskonservativen Jungen Freiheit reicht, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele im Westen nur noch mit Mühe sagen können, was denn eigentlich unsere Sache ist.


Δ Kolja Zydatiss

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