Michel Ruge war Türsteher in den angesagtesten Clubs von Berlin, hat als Bodyguard gearbeitet und ist heute Autor („Bordsteinkönig“). Für ALIAS erinnert er sich an seine politisch unkorrekte Jugend auf St. Pauli.
Vor Jahren habe ich einem Redakteur mal von den Siebzigerjahren vorgeschwärmt. Er meinte, ich solle nicht immer sagen, dass die alten Zeiten so toll gewesen seien. Aber warum eigentlich nicht?
Nüchtern betrachtet war es so: Wir wohnten am Großneumarkt und auf St. Pauli, also mitten in Hamburg. Wenn wir nicht länger weg waren, verschlossen wir weder Haus- noch Wohnungstür. Mit vier Jahren spielte ich schon alleine auf der Straße. Vor allem aber hatte die politische Korrektheit, die aus vielen Mitmenschen heute verkappte Oberlehrer macht, noch lange nicht Einzug gehalten – die Desperados der Stadt, wirkliche Individualisten, zogen durch die Straßen.
Zu jedem Fest trugen die Erwachsenen Abendgarderobe; das machte die Atmosphäre in den Wohnzimmern knisternd und aufregend. Sie soffen und rauchten und waren viel unbefangener. Sex schwang ständig mit. Die Erwachsenen ließen uns Kindern unsere eigene Welt, und meine Mutter zwang mich nie, drei Stunden im Café zu hocken, während sie ganz wichtige Gespräche mit anderen Müttern oder Vätern führte.
Wir hatten Öfen und kein Bad, kein Warmwasser und keine eigene Toilette – es fehlte mir an nichts. Ich durfte sogar Hunger kennenlernen. Ein tolles Gefühl, wenn er gestillt wird.
„Wir hatten kein Warmwasser und keine eigene Toilette – es fehlte mir an nichts.“
Was für eine Freude, wenn ich Freunde auf der Straße traf! Unbeschreiblich. Heute dagegen die Technik mit ihren behaupteten Möglichkeiten, Freundschaften pflegen zu können – darauf scheiße ich.
Nachts lag ich oft wach, wenn meine Eltern auf St. Pauli ihre Taler verdienten. Ich schaute aus dem Fenster zu den Kränen im Hafen und malte mir die tollsten Zukunftspläne aus. Komisch, ich erinnere mich noch genau an diese Nächte. Ich hatte keinen Computer, der mich in meiner Fantasie einschränkte und fernsehen durfte ich noch nicht.
Eines Abends schaute ich mir lange ein Haar an, das ich mir ausgerupft hatte, und dachte: Alles ist möglich. Warum ich gerade beim Betrachten eines Haares auf diesen Gedanken gekommen war, kann ich nicht sagen. Aber ich kann sagen, dass der Gedanke aus mir selbst heraus kam. Ich hatte ihn gefunden oder er mich – eine Erkenntnis, die mir das Beobachten meiner Welt geschenkt hatte und keine Software, kein Film oder Buch. Das Leben selbst teilte mir damals mit, dass alles passieren kann. Ich wusste es einfach und weiß es bis heute.
Wir verwechseln Lebensstandard mit Lebensqualität. Letztere wächst nicht in dem Maße wie materieller Wohlstand. Im Gegenteil: Wenn alles jederzeit verfügbar ist, wird es beliebig. Dann kennt das Leben keine Höhen und Tiefen mehr, keinen Puls.
Ich liebe Luxus, aber ich habe auch zig Freunde, die unglücklich in ihrem materiellen Reichtum dahinsiechen und deren Kinder in ihrer Saturiertheit depressiv werden. Genau diese Menschen kann ich mit einem einfachen Spaghetti-Essen ohne Chichi total begeistern. Das Temperament ihrer Kinder erwacht, wenn sie anfangen, den Wert des Lebens zu spüren, weil sie in einem Moment, in dem sie nicht mit Konsum abgelenkt werden, endlich sich selbst spüren.
Unsere von politischer Korrektheit und Effizienzstreben zugerichtete Welt erscheint mir manchmal wie ein gefrorener Fluss, der das Leben unter einer glatten Oberfläche begräbt, damit keiner mehr darin ertrinken kann. Ich will aber einbrechen in das Eis, im Fluss schwimmen, untergehen und wieder auftauchen. Ich möchte mich nicht nur in der glänzenden Oberfläche spiegeln, die letztlich keinerlei Halt bietet.
Ich möchte unbefangen saufen, flirten und laut sein. Ich möchte meine Freude hinausschreien, ohne Rücksicht darauf nehmen zu müssen, ob ich dabei vulgär erscheine oder angeblich kein Vorbild bin. In einer Welt voller bornierter Heuchler will ich kein Vorbild sein.
Die Tendenz unserer Gesellschaft, Menschen die Freiheit zu nehmen, politisch unkorrekt zu sein, ist falsch. Das Ideal, ständig Rücksicht auf sogenannte „Schwächere“ oder „Minderheiten“ zu nehmen, ist dort Heuchelei, wo die Motivation von Menschen und Unternehmen für rücksichtsvolles Verhalten nicht der Menschlichkeit, sondern wirtschaftlichen Interessen geschuldet ist oder der Angst vor Ausgrenzung und Ablehnung.
„Ich will einbrechen in das Eis, im Fluss schwimmen, untergehen und wieder auftauchen.“
Wir spielen Moralapostel und versklaven dabei weiterhin ganze Kontinente für die Erhaltung und Steigerung unseres Lebensstandards, während uns die echten Qualitäten des Lebens durch die Finger rinnen und uns, wenn wir ehrlich sind, die Lebensqualität anderer Menschen scheißegal ist. Hauptsache, uns kommen keine verbotenen Wörter über die Lippen.
Politische Korrektheit schafft keine soziale Wärme, denn für die braucht es in einer Gesellschaft Reibung. Sie schafft ein Klima der Kälte, der Angst und schürt Neid – den Hass auf die Freude und das Schöne der Anderen. Der Autoposer wird mit verhasstem Blick abgestraft, anstatt dass man die Freude wahrnimmt, die ihm das Posen macht. Jedes vermeintliche Zuviel wird als prollig oder protzig abgestempelt. Das ist Sozialismus, übertragen auf das private Leben und Glück. Menschen müssen verstecken, was ihr Leben bereichert, was ihnen Freude macht.
Der Stuck soll von den Wänden geschlagen, die Paläste der Schönheit und des Glücks gestürmt werden. Und warum? Weil es nicht korrekt ist, so etwas zu wollen. Sagt wer? Ich muss kotzen, wenn ich den Spießern weiterhin dabei zusehen muss, wie sie die brutale Kraft der Natur und die Schönheit des Lebens kleindesignen wollen.
Alles soll auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert werden, solange bis keinerlei Gefühle mehr verletzt werden können. Ganz einfach, weil sie uns auf dem Weg dahin verloren gegangen sind. Alles bis auf den geifernden Hass, mit dem die Gesinnungsgegner vorzugsweise auf sozialen Netzwerken geschlachtet werden.
Aus Rücksicht. Aus Liebe. Ein Witz.
Δ Michel Ruge