Wokes Wissen

Der US-amerikanische Autor Jonathan Rauch warnt: Politisierte Wissenschaft ist weder wissenschaftlich noch fortschrittlich. Mit seiner Kritik wendet er sich besonders an die renommierte Fachzeitschrift Nature Human Behaviour, die vor Kurzem woke Identitätspolitik zu einer ihrer Leitlinien erklärt hat.

von Jonathan Rauch


Sollen wissenschaftliche Zeitschriften sich zu Gatekeepern für soziale Gerechtigkeit ernennen? Zumindest die Redakteure der angesehenen Fachzeitschrift Nature Human Behaviour sind dieser Meinung. „Die Wissenschaft hat sich zu lange an der Aufrechterhaltung struktureller Ungleichheiten und Diskriminierung in der Gesellschaft beteiligt“, erklären sie in einem kürzlich veröffentlichten Manifest. „Mit diesem Leitfaden unternehmen wir einen Schritt, um dem entgegenzuwirken“.

Die Redakteure versichern uns, dass „die Förderung von Wissen und Erkenntnis ein grundlegendes öffentliches Gut ist“. Okay … Sie schreiben außerdem, dass Forschung den Menschen, die sie untersucht, keinen Schaden zufügen sollte – keine kontroverse Aussage. Aber dann erweitern die Autoren des Manifests ihre Definition von „inakzeptablem Schaden“ hin zu „negativen sozialen Folgen“. Dieser Schritt verdient es, sehr kontrovers genannt zu werden.

Forscher sollen „das Risiko, eine der untersuchten Gruppen in der Öffentlichkeit zu schädigen, so weit wie möglich minimieren“, heißt es (meine Hervorhebung). „Forschung kann – unbeabsichtigt – Individuen oder Gruppen stigmatisieren“, fügen sie hinzu (wieder meine Hervorhebung). „Sie kann diskriminierend, rassistisch, sexistisch, ableistisch oder homophob sein. Sie kann eine Rechtfertigung dafür liefern, die Menschenrechte bestimmter Gruppen schlicht aufgrund ihrer sozialen Merkmale zu untergraben.“

Dass politische Agenden in die Wissenschaft einsickern, ist nichts Neues.

Die von mir kursiv gesetzten Abschnitte bergen enormes Potenzial. Eine Wissenschaftlerin mag nicht das geringste Interesse verspüren, jemanden zu diskriminieren, ihre Beweise mögen solide sein, ihre Methoden fundiert und ihre Schlussfolgerungen tatsächlich wahr. Dennoch könnten die Redakteure von Nature Human Behaviour unter den Prämissen ihres Manifests den Artikel dieser Wissenschaftlerin ablehnen, eine Überarbeitung verlangen oder ihn sogar zurückziehen, wenn sie der Meinung sind, dass er „die Würde oder die Rechte bestimmter Gruppen untergräbt, davon ausgeht, dass eine menschliche Gruppe einer anderen nur aufgrund eines sozialen Merkmals überlegen oder unterlegen ist, Hassreden oder verunglimpfende Bilder enthält oder privilegierte, ausgrenzende Perspektiven fördert.“

Dass politische Agenden in die Wissenschaft einsickern, ist nichts Neues. Ich habe darüber 1993 in meinem Buch Kindly Inquisitors: The New Attacks on Free Thought geschrieben. Damals warben Gruppierungen wie Kreationisten, Afrozentristen und Marxisten mit Alternativen zur Mainstream-Biologie, -Mathematik und -Sozialwissenschaft. Heute arbeitet die politische Rechte hart daran, Schulbibliotheken und Lehrpläne von dem zu säubern, was sie als kritische Rassentheorie (was auch immer das ist) und LGBT-Grooming (was auch immer das ist) ansieht.

Auf der Linken fordern Wissenschaftler indessen, die akademische Freiheit zu überdenken, damit sie nicht „Ideen schützt, die kein Gehör verdienen“. Erst kürzlich wies das staatliche kalifornische Community-College-System seine Mitarbeiter an, „zur DEI– und Anti-Rassismus-Forschung und -Lehre beizutragen“. Eine Instruktion, die gegen das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit und, wie die Foundation for Individual Rights and Expression feststellt, möglicherweise sogar gegen die US-amerikanische Verfassung verstößt. Anna Krylov gibt in ihrem wichtigen Artikel The Peril of Politicizing Science weitere Beispiele für als Wissenschaft getarnten Social-Justice-Aktivismus. „Ich beobachte immer häufiger Versuche, Wissenschaft und Bildung einer ideologischen Kontrolle und Zensur zu unterwerfen“, schreibt Krylov und fügt hinzu, dass sie sich an ähnliche Bemühungen in der Sowjetunion ihrer Kindheit erinnert fühlt.

Zweideutigkeit reiht sich an Zweideutigkeit, damit die Willkür des Zensors einen möglichst weiten Wirkungsbereich hat.

Ob bahnbrechend oder nicht, das Manifest von Nature Human Behaviour verdient Aufmerksamkeit, weil es eine ausdrückliche Befürwortung des Social-Justice-Gatekeepings durch eine angesehene wissenschaftliche Zeitschrift darstellt. In seinen Details ist es mit Problemen durchsetzt.

In dem Online-Magazin Quillette seziert der Sozialpsychologe Bo Winegard diese Details meisterhaft. Winegard stellt zunächst fest, wie vage der Leitfaden der NHB-Redakteure ist. „Zweideutigkeit reiht sich an Zweideutigkeit, damit die Willkür des Zensors einen möglichst weiten Wirkungsbereich hat“, schreibt er. „Man muss kein Wahrsager sein, um vorherzusagen, dass die im Manifest genannten Kriterien nicht konsequent angewandt werden.“ Winegard weist auf die tendenziösen ideologischen Annahmen hin, die in dem Dokument enthalten sind, und nennt einige der legitimen Forschungsarbeiten, die unterdrückt werden könnten.

Erkenntnisse über Gruppenunterschiede – sexuelle, rassische, kulturelle und so weiter – wären etwa von vornherein verdächtig. Winegard merkt an, dass ein Aufsatz, in dem festgestellt wird, dass homosexuelle Männer im Durchschnitt promiskuitiver sind als heterosexuelle Männer, als inakzeptabel stigmatisierend angesehen werden mag, selbst wenn die Ergebnisse „zu einer Verringerung der Rate sexuell übertragbarer Infektionen führen könnten“ – etwas, das die Herausgeber nicht vorhersehen können.

Ein Biologe wird unter den Leitlinien von NHB womöglich Hemmungen haben, zu sagen, dass Menschen geschlechtsdimorph sind, dass Männer und Frauen sich biologisch unterscheiden lassen oder dass überhaupt Geschlechtsunterschiede existieren. Auch einiges von dem, was ich selbst schreibe, könnte verdächtig sein, zum Beispiel der Wert, den ich Familien zuschreibe, die über zwei Elternteile verfügen, oder die Gefahren, die ich in der radikalen Gender-Ideologie erkenne.

Ich kann Winegards Analyse der Unzulänglichkeiten des Leitfadens nicht verbessern, daher werde ich in diesem Aufsatz einen anderen Weg einschlagen, indem ich das Manifest der NHBRedakteure stähle. Hier sind drei plausible Argumente, die meiner Meinung nach für das Manifest sprechen – und Gründe, die offenlegen, warum diese Argumente dennoch scheitern.


1. „Wissenschaftler und Fachzeitschriften berücksichtigen bei ihren Forschungsentscheidungen ohnehin stets soziale Auswirkungen. Wir tun es nur explizit.“

Tagein, tagaus berücksichtigen Forscher, Fachzeitschriften und Geldgeber im akademischen Bereich auch das Wohlergehen der Gesellschaft – einschließlich der Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf Randgruppen. Ich selbst habe einmal einen prominenten Wissenschaftler dazu gedrängt, ein Buchkapitel zu streichen, das, selbst wenn es empirisch fundiert wäre, den Beziehungen zwischen den Rassen und seinem eigenen Ruf in unverantwortlicher Weise schaden würde.

Dies ist das stärkste Argument, das NHB vorbringen kann, denn seine Prämisse ist wahr. Wissenschaftler und Zeitschriften-Redakteure sind keine Maschinen, Vulkanier oder Soziopathen, und niemand möchte, dass sie es sind. Sie können und sollten sich nicht von der Gesellschaft abstrahieren, deren Teil sie schließlich sind. Sie können und sollten über die sozialen Auswirkungen ihrer Arbeit nachdenken und sich vor absehbaren negativen Folgen schützen.

Hier besteht ein grundlegendes Dilemma. Wie kann Wissenschaft sich gesellschaftlich verantwortlich zeigen, ohne die Forschung zu politisieren? Im Laufe der Jahrhunderte hat die Wissenschaft eine unvollkommene, aber sehr funktionale Antwort gefunden: Subsidiarität.

Subsidiarität bedeutet, dass die zentrale Kontrolle über die Entscheidungsfindung reduziert wird, indem man sie auf eine tiefere Ebene verlagert, zum Beispiel auf Einzelpersonen, lokale Regierungen, Unteroffiziere, Franchise-Manager und Gemeindegruppen. Subsidiarität macht lokales Wissen nutzbar, ermutigt zu Experimenten und reduziert bürokratische Verkrustungen. Sie fördert Eigeninitiative und verhindert die Übernahme eines Systems durch Sonderinteressen.

Die Redakteure könnten genauso gut ein Schild mit der Aufschrift „Konservative nicht willkommen“ aufhängen.

Forschung funktioniert weitgehend nach demselben Prinzip. Akkreditierungsstellen, wissenschaftliche Gesellschaften und Berufsverbände legen allgemeine Leitlinien fest. Bei der Umsetzung dieser Leitlinien lassen sie den Universitäten jedoch einen großen Ermessensspielraum, der wiederum den Fakultäten einen großen Ermessensspielraum lässt, der schließlich den einzelnen Forschern noch mehr Ermessensspielraum einräumt. Im Großen und Ganzen vertrauen wir darauf, dass ausgebildete Fachleute gesellschaftlich verantwortungsvolle Forschungsentscheidungen treffen. Im Allgemeinen tun sie das auch. Fragen zu sozialem Schaden und sozialer Gerechtigkeit werden in Gesprächen und Debatten unter den Mitgliedern der Forschungsgemeinschaft erörtert und nicht peremptorisch von einer Handvoll Redakteure entschieden.

In diesem zerstreuten, dezentralisierten System spielen akademische Zeitschriften die wesentliche Vermittler-Rolle. Sie bewerten die Bedeutung der jeweiligen Forschung, prüfen ihre Qualität und ermöglichen ihr, sofern sie in diesen Punkten für hinreichend befunden wurde, den Zugang zum Markt der Ideen. Natürlich können Zeitschriften nicht völlig unpolitisch sein, denn ihre Redakteure sind schließlich auch nur Menschen. Doch traditionell sollen sie sich durch weltanschauliche Neutralität auszeichnen, damit die politischen Neigungen ihrer Redakteure nicht an die Stelle der wissenschaftlichen Kompetenz der Forscher treten. Wir wollen, dass wissenschaftliche Zeitschriften als Qualitätskontrolle fungieren, nicht als politische Kontrollinstanz.

Indem die NHB soziale Gerechtigkeit ausdrücklich zu einem Element der Redaktionspolitik macht, bricht sie mit dieser Tradition. In dem Maße, wie sie dies tut, werden die Ergebnisse schlecht ausfallen. Wie professionell und wohlmeinend die Redakteure der NHB auch sein mögen, sie sind nicht qualifiziert, im Namen der Gesellschaft zu entscheiden, ob eine Forschungsarbeit gesellschaftlich schädlich oder wünschenswert ist. In der Tat ist es für sie sogar unmöglich, eine Ahnung davon zu haben, wie sich eine Forschungsarbeit in der Realität auswirken wird.

Vom Versuch der Kirche, das heliozentrisches Weltbild zu unterdrücken, bis hin zu den modernen Bemühungen der US-amerikanischen Bundesregierung, die Forschung über Waffengewalt und den gesundheitlichen Nutzen von Cannabis zu unterbinden, haben Obrigkeiten immer wieder soziale Schäden als Grund für das Unterdrücken von Wissenschaft angeführt – und sich stets geirrt. Die Kristallkugel der NHB-Redakteure wird nicht klarer sein als die der Kirche oder der Regierung. In der Praxis werden auch sie lediglich ihre eigenen Vermutungen und Vorurteile zwischen die Forscher und die größere Gemeinschaft der Gelehrten schieben und so die Suche nach Wahrheit verzerren.

Die NHB-Redakteure schlagen eine Antʻwort auf dieses Problem vor. Hier ist sie, in vollem Wortlaut: „Wir verpflichten uns, diese Anleitung vorsichtig und umsichtig zu verwenden und bei Bedarf Ethik-Experten und Interessengruppen zu konsultieren.“ Mit anderen Worten: Sie werden politische Aktivisten und fachfremde Spielbeobachter als wissenschaftliche Berater einstellen. Wie Winegard anmerkt, ist das nicht gerade beruhigend.


2. „Wir sind uns der Gefahr der Politisierung bewusst, aber wir werden ihr nicht nachgeben. In unserem Editorial heißt es: Es ist ebenso wichtig, Schaden zu verhindern, wie sicherzustellen, dass ethisch geführte Forschung zu individuellen Unterschieden und Unterschieden zwischen menschlichen Gruppen gedeiht, und dass keiner Forschung entgegengewirkt wird, nur weil sie gesellschaftlich oder wissenschaftlich umstritten sein könnte.

Viel Glück, NHB! Wir stehen in einer 300-jährigen wissenschaftlichen Tradition, die Forschern und Fachzeitschriften-Redakteuren dabei geholfen hat, zu verstehen, was wissenschaftlichen Verdienst ausmacht. Wir wissen, dass Bayes‘sches Denken zuverlässiger ist als Rosinenpickerei, dass kontrollierte Doppelblindstudien besser sind als Zufallsstichproben, dass es ein Fehler ist, Korrelation mit Kausalität gleichzusetzen, und vieles, vieles mehr.

„Schaden zu verhindern“ ist dagegen ein völlig subjektives Kriterium. Die neue Politik ermuntert Aktivisten und Interessengruppen, ihr Veto gegen „schädliche“ Forschung einzulegen. Sie werden die Einladung annehmen und behaupten, dass jede Forschung, die sie beleidigt, eben auch unterdrückend, ungerecht, stigmatisierend, traumatisierend, rassistisch, kolonialistisch, homophob, transphob oder gewalttätig ist.

Wenn verlangt wird, dass Forschungsergebnisse, die angeblich beleidigend sind, abgelehnt oder zurückgezogen werden, besitzt die NHB, die sich verpflichtet hat, „Schaden zu verhindern“, nichts Handfestes, auf das sie zurückgreifen könnte, um dagegen zu argumentieren. Wenn die Redakteure nicht sofort einlenken, werden sie es deshalb kurze Zeit später tun.

Laut Pew Research Center ist der Anteil der Amerikaner, die der Meinung sind, dass Hochschulen und Universitäten einen „negativen Einfluss“ auf das Land nehmen, von 28 % auf 38 % gestiegen.

Außerdem sind die Leitlinien der NHB offensichtlich politisch. Nehmen wir folgendes Kriterium für problematische Inhalte: „Beiträge, die singuläre, privilegierte Perspektiven verkörpern, die eine Vielfalt von Stimmen in Bezug auf sozial konstruierte oder gesellschaftlich relevante menschliche Gruppierungen ausschließen und die vorgeben, dass solche Perspektiven verallgemeinerbar sind und/oder vorausgesetzt werden.“

Wenn Sie herausfinden können, was dieses Kauderwelsch bedeutet, sind Sie schlauer als ich. Was es jedoch eindeutig vermittelt, ist woke Identitätspolitik. Die Redakteure könnten genauso gut ein Schild mit der Aufschrift „Konservative nicht willkommen“ aufhängen.

Nach Angaben des Pew Research Centers ist der Anteil der Amerikaner, die der Meinung sind, dass Hochschulen und Universitäten einen „negativen Einfluss“ auf das Land nehmen, zwischen 2015 und 2019 von 28 % auf 38 % gestiegen. Ein erschreckender (und deprimierender) Befund.

Ein großer Teil dieser Feindseligkeit ist auf die Wahrnehmung zurückzuführen, dass die akademische Welt von Linken dominiert wird und intolerant ist. Selbst wenn Wissenschaftler und Redakteure nicht absichtlich Politik in ihre Arbeit einfließen lassen (und das tun die meisten nicht), zeigen mehrere Umfragen, dass konservative Standpunkte in einigen Disziplinen so selten sind, dass progressive Orthodoxien einfach als selbstverständlich angesehen werden.

Alles an der NHB-Erklärung wird dieses Problem noch verschärfen.


3. „Sind Sie nicht auch der Meinung, dass die Wissenschaft in einer Weise voreingenommen ist, die sozialen Randgruppen schadet? Sollten wir nicht etwas dagegen tun?“

Ja und nochmals ja. Aber ich habe einen besseren Plan: mehr und bessere Wissenschaft.

Über frömmlerische Wissenschaft weiß ich ein bisschen etwas. Jahrzehntelang stufte das psychiatrische Establishment der USA Homosexualität als Geisteskrankheit ein. Als unmittelbare Folge davon wurden homosexuelle Amerikaner von Arbeitsplätzen ausgeschlossen, als abweichend und gefährlich stigmatisiert und „Behandlungen“ unterzogen, die Elektroschocks und Lobotomien umfassten. Dies ist für mich keine ferne, längst vergangene Welt; es stellte für mich als Homosexuellen meine Welt dar. Die Psychiatrie meinte es gut, aber ihre Charakterisierung als krank war einer der Gründe dafür, dass ich, als sich mein sexuelles Verlangen zeigte, verzweifelt und vergeblich darum kämpfte, es zu unterdrücken.

1956 testete die Psychologin Evelyn Hooker, ob Psychiater anhand von anonymisierten Persönlichkeitsbeurteilungen Homosexuelle von Heterosexuellen unterscheiden konnten. Die Psychiater waren nicht in der Lage, einen Unterschied zu erkennen. Andere Arbeiten bestätigten die Ergebnisse von Hooker. 1973 korrigierte die American Psychiatric Association durch eine Abstimmung ihrer Vollmitglieder offiziell ihren Fehler, indem sie Homosexualität aus dem kanonischen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders entfernte. Frank Kameny, der größte Verfechter der Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben im letzten Jahrhundert (und selbst ein in Harvard ausgebildeter Wissenschaftler), nannte diesen Schritt der APA die größte Massenheilung der Geschichte.

All dies war ein Beispiel für eine einzigartige Stärke der Wissenschaft: ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur.

Eine Frage, die ich mir stelle: Hätte Evelyn Hookers Forschung im Jahr 1956 – als es selbstverständlich schien, dass Homosexuelle pervers sind und eine Gefahr für sich selbst und die Gesellschaft darstellen – das Äquivalent der NHB-Richtlinien für unbedenkliche Wissenschaft erfüllt? Hätten die Redakteure der Zeitschrift sie veröffentlicht oder hätten sie diese Arbeit wegen des „sozialen Schadens“, den sie verursachen könnte, unterdrückt?

Sie können hier genauso gut Vermutungen anstellen wie ich. Ich möchte an dieser Stelle nur sagen, dass ich angesichts der Wissenschaftsgeschichte, die bis zu Galileo zurückreicht, und aufgrund meiner eigenen Erfahrung ziemlich skeptisch bin, wenn selbsternannte Wächter anbieten, sozial schädliche Wissenschaft zu unterdrücken.

Hier ist ein Gegenangebot, das ich den Redakteuren von NHB gern unterbreiten möchte:

Bitte verstehen Sie, dass es nicht Ihre Aufgabe ist, die Wissenschaft davon abzuhalten, „strukturelle Ungleichheiten und Diskriminierung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten“. Kehren Sie zu dem zurück, von dem sie wissen, dass sie es beherrschen. Verstehen Sie sich nicht als Rittmeister der Forschung, die darüber urteilen, was der Gerechtigkeit dient und was der Gesellschaft schadet, sondern als demütige Diener einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die zusammengenommen über unendlich viel mehr Wissen, Weisheit und Erfahrung verfügen als Sie selbst.

Erlauben Sie Ihren Tausenden von Forschern, Gutachtern und Lesern, ihre eigenen vielfältigen Feststellungen darüber zu treffen, wie die Forschung letztlich Gruppen, Einzelpersonen und dem öffentlichen Wohl nützen oder schaden könnte. Akzeptieren Sie, dass es für jeden, auch für Sie selbst, arrogant und selbstherrlich ist, sich als Visionäre aufzuspielen, die in der Lage sind, wissenschaftliche Prozesse im Vorhinein zu beurteilen. Wenden Sie die nicht-politischen Standards wissenschaftlicher Leistung und redaktioneller Exzellenz an, die sich über Jahrhunderte hinweg herausgebildet haben.

Denken Sie vor allem daran, dass der bei weitem größte Motor für soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Gleichheit stets im Fortschritt des Wissens und dem Zurückdrängen von Unwissenheit durch Wahrheitssuchende bestand. Die größte Kraft dieser wahrheitssuchenden Menschen fand sich in dem Umstand, dass sie den Beweisen folgten, wohin auch immer sie führten. Wenn Ihnen daran gelegen ist, die Gesellschaft besser und gerechter zu machen, werden Sie dieser Gemeinschaft von Wahrheitssuchenden dienen – und sich nicht selbst zu ihren Anführern ernennen.


Jonathan Rauch ist Senior Fellow an der Brookings Institution und Autor von Die Verteidigung der Wahrheit: Fake News, Trolle, Verschwörungstheorien und Cancel Culture.


Dieser Text wurde ursprünglich von der Foundation for Individual Rights and Expression (FIRE) veröffentlicht und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors in deutscher Übersetzung.

Empfohlene Artikel