Teuflische Allmacht

In seinem neuen Buch ist Tilman Tarach den christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus auf der Spur. Die These: Von einem klaren Bruch zwischen althergebrachtem religiösen Judenhass und seiner modernen säkularen Ausprägung kann keine Rede sein.

Zu den wunderlichsten Erkenntnissen des Lebens gehört das Wissen darüber, wie oft sich Hass und Hassobjekt spiegeln. Hat man dies begriffen, überrascht es auch nicht mehr, dass der Antisemitismus sich gerade durch eines der Merkmale auszeichnet, das er seinem Gegner vorwirft: Beständigkeit.

Angesichts der Permanenz des ausgemachten Feindes sind erste Unterstellungen schnell gefunden. Was sonst als Heimtücke könnte es einem Volk erlauben, rund 2.500 Jahre Verfolgung zu überleben? Aber es lässt sich auch andersherum fragen: Was mag dazu geführt haben, dass eine Ideologie seit der Antike überdauert, die den Hass hinter den Pogromen speist? Eine plausible Antwort auf beide Fragen: Anpassungsfähigkeit.

Antisemitismus ist, wie es der Historiker Robert Wistrich nannte, „der längste Hass“, weil er seine Gestalt wandelt. Welche absurden Blühten diese memetische Evolution mitunter treibt, zeigte sich erst vor Kurzem, als Russlands Außenminister Sergei Lawrow, um den jüdischen Präsidenten der Ukraine, Wolodimir Selenski, weiterhin als Nazi verleumden zu können, schlicht behauptete: „Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut.“ Wo die Logik den Antisemiten in eine Sackgasse manövriert, wird das Opfer zum Täter erklärt – und der Hass lässt sich aufrechterhalten.

Nun kommt es heute gesellschaftlichem Selbstmord gleich, sich als Antisemit zu outen. Die erste Regel des modernen Judenhasses besteht deshalb darin, das Wort „Jude“ tunlichst zu vermeiden. Stattdessen ist von Milliardären wie Jacob Rothschild oder George Soros die Rede, von dunklen Mächten, die angeblich das Geschick der Banken lenken, Kriege anzetteln, die Medien beherrschen und den Austausch der europäischen Bevölkerung durch Migranten vorantreiben.

Was soll schon antisemitisch an einem Tweet sein, in dem einer Zeichnung des Simpsons-Bösewichts Mr. Burns ein Foto von Jacob Rothschild gegenübergestellt wird, wenn doch unerwähnt bleibt, dass es sich bei Letzterem um einen Juden handelt? Wer modernen Antisemitismus trotz solcher Verschleierungen identifizieren will, tut gut daran, sich mit den Ursprüngen der Judenfeindschaft vertraut zu machen. Und die liegen im Christentum.

Ich kann mir Christus nicht anders vorstellen als blond und mit blauen Augen, den Teufel aber nur in der jüdischen Fratze.

Adolf Hitler

In seinem Buch Teuflische Allmacht untersucht Tilman Tarach die christlichen Wurzeln des modernen eliminatorischen Antisemitismus und zeigt auf, dass der altbekannte religiöse Judenhass, den schon Kirchenväter wie Augustinus und Ambrosius pflegten, sich nicht grundlegend von seinen modernen Ausprägungen unterscheidet. In einem Brief an Kaiser Theodosius forderte etwa Ambrosius bereits im Jahr 388, nachdem er eine Synagoge hatte anstecken lassen, die „Ausrottung“ der Juden. In seinem Hass konnte Ambrosius sich auf das Neue Testament berufen, in dem Juden wiederholt als „Synagoge des Satans“ beschimpft werden.

Unverkennbar ist das christliche antisemitische Erbe, wie Tarach durch etliche Quellen darlegt, auch in Gedankengut und Propaganda der Nationalsozialisten. Bereits 1921 sagte Hitler auf einer NSDAP-Versammlung in Rosenheim: „Ich kann mir Christus nicht anders vorstellen als blond und mit blauen Augen, den Teufel aber nur in der jüdischen Fratze.“

Ohne Probleme schlug der Nationalsozialismus die Brücke vom Juden als Mörder Gottes zum Juden als Mörder der Nationen. Im Stürmer war 1933 zu lesen: „Die Juden haben Christus ans Kreuz geschlagen und ihn tot geglaubt. Er ist auferstanden. Sie haben Deutschland ans Kreuz geschlagen und tot gesagt und es ist auferstanden herrlicher denn je zuvor.“ Ein Jahr vorher legte dasselbe Propaganda-Blatt in einer Illustration einer nichtjüdischen Mutter, die ihr Kind gerade von einem jüdischen Arzt impfen lässt, die Worte in den Mund: „Es ist mir sonderbar zu Mut, denn Gift und Jud tut selten gut.“

Spätestens hier sollte dem Leser von Teuflische Allmacht klar werden, dass christliche und faschistisch-rassistische Antisemiten einen strukturell kaum unterscheidbaren Hass auch mit manchem „Querdenker“, „Putin-Versteher“ und „QAnon“-Verschwörungstheoretiker teilen. Die irre Mär vom Juden als heimtückischem Gift- und Kindermörder oder Zersetzer der Völker wird in unseren säkularen und anti-faschistischen Zeiten fleißig weitergesponnen.

Den Versammlungsleiter eines „Corona-Protests“ sogenannter Reichsbürger zitiert Tarach mit den Worten: „Wer hat Jesus Christus verraten?“ Das Publikum musste darauf 2020, als diese Kundgebung stattfand, genauso wenig eine Antwort geben wie im europäischen Mittelalter oder in Hitlers Deutschland. Verstanden werden solche antisemitischen Codes mittlerweile auch von Fans zahlreicher deutscher Gangsta-Hip-Hopper, die in ihren Songs von Ritualmorden, Kinderschändungen und anderen angeblichen Verbrechen der „Dynastie Rothschild“ rappen.

Der Versammlungsleiter eines „Corona-Protests“ fragt: „Wer hat Jesus Christus verraten?“

Tarach widmet sich auch dem islamischen Antisemitismus. Lange galten Juden im arabischen Raum nicht wie in Europa als Bedrohung, sondern als unterlegen – und gerade deshalb als verabscheuungswürdig. Vernichtung schien, solange der Dhimmi („Schutzbefohlene“) sich an die Regeln seiner Herrscher hielt, nicht notwendig. Doch der „Niedergang des Osmanischen Reichs verstärkte die narzisstische Kränkung der Muslime“, schreibt Tarach.

In Teuflische Allmacht wird es so nicht behauptet, doch der Gedanke liegt nahe: Angesichts der nicht nur militärischen, sondern offenkundigen zivilisatorischen Überlegenheit Israels gegenüber seinen muslimischen Nachbarn hat sich die islamische Abneigung zum Vernichtungswunsch gesteigert. Längst gelten die Juden und ihr „zionistisches Gebilde“ Islamisten von Köln bis Kabul nicht nur als bedrohlich, sondern als praktisch allmächtig.

So bizarr fällt dieser Wahn aus, dass man sich mitunter das Lachen nicht verkneifen kann. Zum Beispiel wenn ein Geier, den Biologen der Universität Tel-Aviv mit einem Peilsender ausgestattet haben, in Saudi-Arabien als Mossad-Agent festgesetzt wird. Grotesk war auch das antisemitische Weltbild der 9/11-Attentäter: Mohammed Atta soll Juden selbst für die zu dünne Toilettentür in der Wohnung seiner Hamburger Terrorzelle verantwortlich gemacht haben. Beides sind keine Beispiele Tarachs, doch sie verdeutlichen die Dimension der memetischen Kraft, die es – gebietet man ihr keinen Einhalt – dem geistigen Virus Antisemitismus ermöglicht, noch jede Zelle des Weltbilds eines Menschen zu infizieren.

Zu den antisemitischen Kontinuitäten, die sich bis zu den frühen Tagen des Christentums zurückverfolgen lassen, gehört der Vorwurf, die Juden trügen die Verantwortung für die Kreuzigung Jesu. Als Feinde Gottes wurden sie so zur Personifikation des absolut Bösen – zu Kindern des Teufels, wie es im Neuen Testament heißt. Am Ende sind Juden für den Antisemiten so etwas wie die eierlegende Wollmichsau unter den Sündenböcken. Sie erscheinen als eigentliche Träger der Erbsünde, denen der Teufel Allmacht verliehen hat.

Die Stereotype, die aus diesem antisemitischen Urbild folgen, sind bis heute gut auszumachen. Die beliebte Anschuldigung, der Staat Israel würde die Kreuzigung Jesu an den Palästinensern wiederholen, ist ein Beispiel hierfür. Ein anderes findet sich im Wahn vieler Querdenker- und QAnon-Verschwörungstheoretiker, jüdische Milliardäre arbeiteten konzertiert zum Wohle ihres eigenen Volkes an der Zerschlagung der westlichen Nationen. Auch das aus dem christlichen Antisemitismus übernommene Hirngespinst vom Juden als praktisch allmächtigen, aber seltsamerweise dennoch nur im Verborgenen arbeitenden Gift- („Chemtrails“) und Ritualmörder („Pizzagate“) lebt hier auf.

Eine beliebte Anschuldigung: Der Staat Israel würde die Kreuzigung Jesu an den Palästinensern wiederholen.

Tarach schreibt verständlich und argumentiert konsequent, geht bei seiner Analyse aber teils etwas undifferenziert vor. Manches in Teuflische Allmacht ist arg verkürzt und wenig systematisch. Das eigentlich zum Verständnis der Argumentation wichtige Kapitel „Zur Ideologie des Christentums“ etwa befindet sich am Ende des Buchs und hat lediglich eine Länge von drei Seiten. Auch der Judenhass von links, der sich heute gern als Israel- oder Kapitalismus-Kritik tarnt, wird weitgehend ausgeklammert.

Der Leser sollte nicht erwarten, mit diesem Buch ein System an die Hand zu bekommen, über das nun fehlerlos antisemitische Muster erkannt werden könnten. Aber die Fülle an treffenden, häufig überraschenden Quellen und Beispielen in Teuflische Allmacht vermittelt ein besseres Gespür dafür, wie tief eingegraben der Hass auf Juden im europäischen Kulturgedächtnis ist – und wo es sich lohnt, hinzuschauen.

Anfangen könnte man in der polnischen Ortschaft Pruchnik, wo alljährlich zu Ostern, wie Tarach berichtet, eine Judas-Strohpuppe mit Schläfenlocken und Hakennase durch die Straßen geschleift, mit Knüppeln verdroschen und schließlich verbrannt wird. Leser, die von diesem schauderhaften Festakt noch nichts gehört haben, werden in Teuflische Allmacht sicher auch anderes finden, von dem sie bislang nichts ahnten.

Δ Florian Friedman


Tilman Tarachs Buch „Teuflische Allmacht“ ist in der Edition Telok erschienen (224 S., 14,80 €).

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