Das Ende des Menschen

Im Namen der Gleichheit und Grenzenlosigkeit löst sich alles auf, warnt unsere Autorin und rät: Wer den Menschen retten will, muss jetzt die freie Kunst verteidigen.

Es gibt zwei Richtungen von Freiheit: Die vermeintliche Freiheit, die sich nach innen richtet und vom Außen erwartet, respektiert zu werden. Und eine, die sich im Außen neue Wege bahnt. Während die expansive Freiheit das Ich akzeptiert und zum Handeln in die Welt schickt, kreiert die kontraktive Freiheit ein Ich, dem sich die Welt anzupassen hat – ein atomisiertes Selbst, das verschwindet.

Diese Freiheit führt vom Ich zum Detail, zum Kleinsten, ins Nichts. Der kontraktive Mensch verschwindet in sich selbst und kann nicht frei sein; der expansive hingegen konfrontiert sich mit der Realität, handelt unabhängig und lebt mit den Konsequenzen seines Tuns. Jede Auseinandersetzung mit dem Außen fügt seinem Ich etwas Neues hinzu. Die Freiheit, die nach außen strebt, wirkt.

Doch wir leben in einer Zeit der Unwirksamkeitspropaganda – zerstöre nicht, schade nicht, gefährde nicht, belaste nicht, pflanze dich nicht fort! In diesem Milieu kann der freie Mensch nicht existieren.

Wir leben in einer Zeit der Unwirksamkeitspropaganda.

Bedrohte Art

Das Ende des Menschen beginnt mit dem Aussterben des freien Künstlers. Kunst ist die letzte Bastion des Treibenlassens in einer Zeit, in der es für alles eine Anleitung gibt. Der freie Künstler geht einen unbekannten Weg und stellt seine Erfahrungen zur Verfügung, ohne jemanden mitnehmen zu wollen. Sein Werk ist die subjektive Verarbeitung von Welt zu einem einmaligen Eindruck – zu seinem Eindruck.

Je freier das Denken des Künstlers ist, umso näher kann er dem kommen, was sich als Wahrheit bezeichnen lässt. Diese dem Menschen innewohnende Klarheit, die unabhängig von Moralmoden ist, kann in der Arbeit freier Künstler erkannt werden und den Menschen so wieder ein Stück zu sich selbst führen.

Im Ergebnis klafft eine Lücke zwischen bunten Parolen und der Realität, in der man auf die Unterschiede starrt, die man ignorieren soll.

Der freie Künstler betrachtet die Gesellschaft und muss deshalb möglichst unabhängig von deren Denkvorgaben sein. Die Zerrissenheit zwischen ersehnter Unabhängigkeit und realer Abhängigkeit kann dann zum Ausgangspunkt seines Schaffens werden. Wird der Künstler jedoch zum Belehrenden, ist die Enklave der Freiheit nicht haltbar.

Kunst muss nicht gehandhabt, verstanden oder empfunden werden. Der freie Künstler erschafft aus sich heraus den Impuls zur Selbstermächtigung, in dem er Gedanken kondensiert, in Formen gießt und der Welt zur Verfügung stellt. Kunst ist Schöpfung aus der einzigartigen Erkenntnis universaler Zusammenhänge.


Gleichheit ohne Grenzen

Wir leben in einer Zeit der Verschmelzung bei gleichzeitiger Hyperindividualisierung. Die kleinteiliger werdende Identität ordnet sich der Gruppe unter. Solidarität sticht Egoismus. Alle für alle und keiner für einen.

Gleichzeitig werden die Empfindungen Einzelner zum Maßstab einer Gesellschaft, die Emotionen über die Vernunft stellt. Doch je intensiver die Betrachtung der Gefühle betrieben wird, desto anfälliger ist diese Gesellschaft für Hysterie. Sie wird aufgespalten in die Bewegten und in die Getriebenen. Die Avantgarde rennt, die Menschen bleiben zurück. Im Ergebnis klafft eine riesige Lücke zwischen bunten Parolen und der Realität, in der man auf die Unterschiede starrt, die man ignorieren soll.

Nur die Kunst hat in dieser Welt noch die Kraft, den Gegenschmerz zu erzeugen, der das Innere aus der Zurückhaltung befreien kann.

Im Namen der Gleichheit und Grenzenlosigkeit löst sich alles auf. Die Biologie wird zur weißen Fläche, die durch den Willen neu beschrieben werden kann. Seine Möglichkeiten erweitert der moderne Mensch nicht länger durch die Auseinandersetzung mit der Welt, sondern in dem er versucht, seine Physis durch seine Psyche zu verändern. Die Suche nach dem Ich als Verkörperung eines göttlichen Prinzips verlagert sich nach innen – der Mensch, das entgrenzte Wesen, verschwindet im Kollektiv und sucht in sich das Licht.


Wo war der Mensch?

Das Selbst erwartet Aufmerksamkeit: Das Selfie wird zur Daseinsberechtigung, Klicks fremder Menschen zum Existenzbeweis. Der Mensch ist, was er an Likes erzeugt. Dieser Mensch wird, wenn Strom und Internet Vergangenheit sind, nicht gewesen sein. Nachhaltige Unwirksamkeit. Man wird in 200 Jahren von uns nichts finden außer den ausgebrannten Fragmenten unserer Identitätsserver. Und man wird sich fragen: Wo war der Mensch?

Der unfreie Mensch zieht sich ins Innere zurück, versteckt sich, schrumpft und löscht sich aus. Der freie Mensch strebt in die Welt, in die Ferne, zum Neuen. Er erweitert sich, wächst, erobert und entdeckt, manifestiert sich und wirkt. Er glüht und erhitzt. Der freie Mensch braucht Raum, auch wenn alles kleiner werden soll. Also beschränkt er sich, nimmt Rücksicht, gehorcht, schweigt und leidet leise. Unerhört.

Nur die Kunst hat in dieser Welt noch die Kraft, den Gegenschmerz zu erzeugen, der das Innere aus der Zurückhaltung befreien kann, der das Gestaute zu lösen vermag. Auf dass der Mensch sich wieder erkenne.

So war, ist und bleibt die Aufgabe des Künstlers, ein freier Mensch zu sein. Denn sein Vorbild ermutigt. Wenn die Kunst die Freiheit aufgibt, ist der Mensch verloren.


Δ Juliane Uhl

Mehr von unserer Autorin: www.lauterdenken.de

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