Gelöscht, gesperrt, angezeigt

Fast 80 Prozent der Deutschen trauen sich laut einer Allensbach-Umfrage nicht, zu bestimmten Themen ihre Meinung zu sagen. Wem klar ist, wie gerade im Internet mit abweichenden Ansichten umgegangen wird, den wundert das nicht.

In Deutschland und vielen anderen Ländern steht das politische Establishment seit der Migrationskrise, dem Brexit und der Trump-Wahl unter besonderem Druck. Aus Angst, die Kontrolle über die Debatten zu verlieren, greift die deutsche Politik seit einigen Jahren hart gegen unerwünschte Meinungsäußerungen im Netz durch. 


Overblocking in den sozialen Medien

Das 2017 beschlossene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) zwingt die Betreiber von Internetplattformen dazu, unter hohem Zeitdruck eigentlich ausschließlich Richtern vorbehaltene Entscheidungen über die Rechtswidrigkeit von Äußerungen zu fällen und Löschungen vorzunehmen. Das Resultat dieser hastigen Rechtsdurchsetzung durch einfache, nicht juristisch ausgebildete Mitarbeiter privater Unternehmen ist ein massenhaftes „Overblocking“, also die vorsorgliche Löschung unzähliger, rechtlich von der Meinungsfreiheit gedeckter, aber vom politisch-korrekten Mainstream abweichender oder anderweitig kontroverser Äußerungen.

Der Hamburger Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel hat viele der skandalösesten Fälle auf der Webseite meinungsfreiheit.steinhoefel.de dokumentiert. 2020 wurde zum Beispiel von Twitter ein Post von Oliver Gorus gelöscht. Der Nutzer hatte einen Essay von Peter Keller mit dem Titel „Hitler stand links“ aus der Schweizer Weltwoche geteilt und dazu geschrieben: „Lesenswert: Der sozialistische Umverteilungsstaat der Nationalsozialisten. Wie Hitler sich die Gefolgschaft des deutschen Volkes (im wahrsten Sinne des Wortes) kaufte: Auf Kosten Dritter.“ Ein Post von Daniel L., in dem dieser über den skandalbehafteten Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer schrieb: „Wenn der Typ seinen Job verliert, bekommt er wahrscheinlich noch volle Pensionsansprüche und lacht sich tot, über die Dummheit der deutschen Bevölkerung“ wurde von Facebook als „Hassrede“ gelöscht und der Nutzer für 30 Tage komplett gesperrt. Ebenfalls wegen „Hassrede“ für 30 Tage gesperrt wurde Peter S. Der Facebook-Nutzer hatte eine Schlagzeile der Bild-Zeitung zitiert: „Wer klaut, darf bleiben“. Der Artikel befasste sich mit der Tatsache, dass Personen, gegen die eine rechtskräftige Abschiebeanordnung vorliegt, häufig Straftaten begehen, um die Abschiebung zu verhindern oder hinauszuzögern.

Wir müssten Menschen schon in die Seele schauen können, um festzustellen, ob ihre Äußerungen von Hass motiviert sind.

Kolja Zydatiss

Sogar die „Erklärung 2018“, die sich gegen „illegale Masseneinwanderung“ im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Deutschland 2015/2016 richtet und bis heute auf der Petitionsseite des Deutschen Bundestages veröffentlicht ist, wurde von Facebook als „Hassrede“ eingestuft und gelöscht. Keines dieser Postings verstößt auch nur annähernd gegen irgendein deutsches Gesetz (viele namhafte Juristen sind sogar der Auffassung, das NetzDG selbst beziehungsweise dessen geplante Verschärfung seien verfassungswidrig).


Zensur von Emotionen

Neben dem NetzDG gibt es seit einigen Jahren den jährlichen „Aktionstag zur Bekämpfung von Hasspostings“, bei dem auf Grundlage des „Volksverhetzungsparagrafen“ (§130 StGB) an einem Stichtag quer durch die Republik Dutzende Wohnungen von der Polizei durchsucht werden (eine reine Gängelungs- und Einschüchterungsmaßnahme, da die fraglichen Postings ja bereits den Strafverfolgungsbehörden vorliegen).

Generell wird der Begriff „Hass“ (beziehungsweise „Hassrede“ oder „Hate Speech“) immer inflationärer gebraucht. Hass ist allerdings eine Emotion. Wir müssten Menschen schon in die Seele schauen können, um festzustellen, ob ihre Äußerungen von Hass motiviert sind. Da dies nicht möglich ist, lässt sich praktisch jede leidenschaftlich vorgetragene, kontroverse Ansicht als Hassrede abstempeln. Die so Gebrandmarkten können den Vorwurf nicht widerlegen. Die Kennzeichnung von Äußerungen als Hassrede kommt zudem einer Psychopathologisierung desjenigen gleich, der sie geäußert hat. Mit diesen Produkten krankhafter Geister, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle haben, muss man sich erst gar nicht inhaltlich auseinandersetzen. So erscheinen auch Zensur und Ausgrenzung weniger empörend. Es sind schließlich keine legitimen Meinungen, die unterdrückt werden, sondern lediglich irrationaler „Hass“.

Eine damit verbundene Entwicklung ist die Tendenz, Personen, die vom selbst gesetzten linksliberalen Konsens abweichen, allerlei verunglimpfende, psychopathologisierende oder grob vereinfachende Etiketten anzuheften. Kritiker der Energiewende werden als Klimaleugner gebrandmarkt, Kritiker der Einwanderungspolitik als xenophob, Kritiker einer Frauenquote in Aufsichtsräten als sexistisch, Kritiker der EU als Europafeinde, Kritiker des Islams als islamophob und so weiter. Kürzlich ist ein ganz neuer Dämon dazugekommen: der Coronaleugner aka Covidiot. Mit diesen beiden Etiketten werden auch Menschen belegt, die gar nicht leugnen, dass das Virus SARS-CoV-2 die mitunter sehr gefährliche Krankheit Covid-19 verursacht, aber die Außerkraftsetzung von Grundrechten für unverhältnismäßig halten und aus verschiedenen Gründen einen liberaleren, weniger persönlich und ökonomisch einschneidenden Umgang mit dem Virus befürworten. Oft reicht es auch einfach, einer Person vorzuwerfen, sie nutze rechte oder AfD-Argumente, um eine Diskussion abzuwürgen.

Kürzlich ist ein ganz neuer Dämon dazugekommen: der Coronaleugner aka Covidiot.

Kolja Zydatiss


Nur mit Vorsicht möglich

Es ist kein Wunder, dass eine große Mehrheit der Bundesbürger meint, man könne in unserem Land nicht offen seine Meinung sagen. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2019 finden knapp zwei Drittel der Deutschen, man müsse heutzutage „sehr aufpassen“, zu welchen Themen man sich überhaupt und in welcher Weise äußert. 78 Prozent gaben an, bei einigen beziehungsweise vielen Themen sei öffentliche Meinungsäußerung nur mit Vorsicht möglich. Und 35 Prozent waren gar der Auffassung, freie Meinungsäußerung sei nur noch im privaten Kreis möglich. Ebenfalls 2019 kam eine Umfrage von Infratest dimap zu dem Ergebnis, dass viele Ostdeutsche seit der Wende kaum Fortschritte bei der Meinungsfreiheit sehen. 46 Prozent der Befragten gaben an, dass die Möglichkeit, seine Meinung frei zu äußern, sich in den letzten 30 Jahren „verschlechtert“ oder „kaum verändert“ habe.

Selbst das traditionell eher links geprägte Hochschulpersonal ist mittlerweile alarmiert. Anfang 2020 wurde von Allensbach eine weitere Umfrage, diesmal zur Meinungsfreiheit in der akademischen Welt, durchgeführt. Ein knappes Drittel der befragten deutschen Hochschullehrer und wissenschaftlichen Mitarbeiter gab an, sich durch formelle oder informelle Vorgaben zur Political Correctness eingeschränkt zu fühlen. 74 Prozent rechneten damit, in der Universität auf erheblichen Widerstand zu stoßen, wenn sie einen „Rechtspopulisten“ zu einer Podiumsdiskussion einladen würden. 40 Prozent erwarteten bei der Verweigerung, „gendergerecht“ zu sprechen, negative Konsequenzen. Bereits im April 2019 hatte der Deutsche Hochschulverband (DHV), also die Berufsvertretung der Wissenschaftler in Deutschland, in einer Resolution vor Einschränkungen der Meinungsfreiheit an Universitäten gewarnt.


Reaktionen

Glücklicherweise hat das aktuelle, von vielen als erdrückend wahrgenommene gesellschaftliche Klima auch neue Organisationen, Netzwerke und Initiativen hervorgebracht, die Meinungs-, intellektuelle und akademische Freiheit hochhalten. Anfang 2021 wurde etwa in Deutschland das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ gegründet. Den Vorstand bilden die Philosophin Maria-Sibylla Lotter, der Historiker Andreas Rödder, der Jurist Martin Nettesheim und die Soziologin Ulrike Ackermann. Bereits 2020 lancierten der Publizist Milosz Matuschek und der YouTuber und Autor Gunnar Kaiser den „Appell für freie Debattenräume“, für den sie prominente Erstunterzeichner gewinnen konnten. Binnen fünf Wochen nutzten circa 16.000 Menschen diese Möglichkeit, um ein Zeichen für Meinungsfreiheit und -vielfalt zu setzen.


Δ Kolja Zydatiss

Dieser Text basiert auf einem Kapitel aus Kolja Zydatiss‘ neuem Buch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ (Solibro, 184 S., 16,80 €).



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