Einsichten an der Ampel

Was gutes Benehmen ausmacht, erfährt man im Alltag. Unser Autor stand an einer Ampel – und lernte vom Leben fürs Leben.

Die schönsten Geschichten schreibt das Leben. Oder der Paulaner-Garten. Oder David Sedaris. Wie auch immer, das Leben ist ein formidabler Autor, was denkwürdige und skurrile Geschichten angeht. Eine Edelfeder vor dem Herren, dieses Leben, jedoch ohne Anspruch auf Tantiemen. Die tragen die kostenlosen Darsteller, wir alle, bereits selbst mit unseren Existenzen.

Und so hat sich die Edelfeder heute ein kleines Kammerstück ausgedacht. In den Rollen: Ein behelmtes Kind auf einem Fahrrad. Ein Vater auf dem Fahrrad, ebenso behelmt. Eine Mutter auf dem Fahrrad, behelmt. Und ich, ganz ohne Drahtesel und ohne Salatschüssel auf dem Kopf, dafür mit dem fachgerechten Wegbier in der Hand, dem Samstagabend entgegengehend. Das Bühnenbild: eine Straße mit Fußgängerampel. Ich auf der einen Seite, Familie Fahrradhelm auf der anderen.


„Da ist ein Kind!“ – Ach herrje!

Es ist Rot. Nun verhält es sich so, dass ich diese Ampel kenne. Also nicht persönlich, aber ihr Verhalten ist mir geläufig, so wie ich Samantha Jones von „Sex and the City“ nicht persönlich kenne, aber ihre Verhaltensweisen. Ich kann auch den Verkehr um 19 Uhr einschätzen. Und ich habe so etwas wie Augen und einen Verstand. Also gehe ich bei Rot über die Ampel, wissend, dass da kein Auto kommt.

„Da ist ein Kind!“ schreit mich Papa an, als ich fast zwei Meter des Übergangs geschafft habe. Ja, jetzt sehe ich es auch. Da sitzt ein Kind auf einem Fahrrad und es, also das Kind, hat einen Helm auf. Ach herrje, was habe ich da wieder ausgelöst.

Als ich auf der anderen Straßenseite angekommen bin, schaue ich in die wütenden Gesichtszüge des Vaters mit Helm. Die Augen mutieren zu Laserpistolen. Seine Hände entpuppen sich als Krähenklauen und noch bevor ich mich in Abrahams Schoß zurückwünschen kann, antworte ich: „Ja, dann sieht Ihr Kind schon mal, wie man sich nicht an der Ampel verhält.“

Schweigen. Dann beendet Mutter Helm den kurzen Moment der Stille: „Ja!“ brüllt sie mir entgegen. „So hast Du Dir das schön zurechtgelegt.“


„Kennen wir uns?“

Ich muss fairerweise sagen, genauso habe ich mir das gedacht, aber gut. Ich bin zwar kein großartiger Allergiker, aber auch ich reagiere auf meine Umwelt. Keine Hautausschläge, keine Atemnot, nein: reinste Aggression. Und zwar, wenn mich unbekannte Personen ungefragt duzen.

„Kennen wir uns?“ frage ich höflich. „Oder warum duzen Sie mich? Uschi, bist du es?“ Der Blick von Mutter Helm versteinert sich. Die eben noch aufblitzenden Laserstrahlen des Papas erlöschen. Das behelmte Kind sieht mich neugierig an.

Der Vater bricht die erneute Stille. Und er sagt das, was man im Nachhinein als „pädagogisch wertvoll“ bezeichnen könnte. Nur ein Wort, das meine Seele oder seine oder die des Kindes oder die der Mutter gesunden soll. Das Wort geht so: „Arschloch!“

Ich laufe lächelnd weiter und Familie Helm fährt wutentbrannt in die andere Richtung. Traumschön.

Ich stelle dem Leser eine simple Frage und das ist es auch, was sich die Edelfeder Leben gedacht haben muss: Wer hat sich schlechter verhalten? Ich, der über die rote Ampel lief, oder die Eltern, die jegliche Contenance verloren, unhöflich waren und am Ende sogar beleidigend? Ist für ein Kind eine Person, die sie 60 Sekunden kennen gelernt hat und danach nie wieder sehen wird, nicht weniger prägend als die eigenen Eltern?

Ob diese Geschichte reif für den Paulaner-Garten ist, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass David Sedaris viele seiner Geschichten aus dem Leben klaut. Das Leben, ohne das wir nichts wären. Eine Edelfeder, die mehr Preise verdient als alle Schreiberlinge zusammen.


Δ Julian Marius Plutz

Dieser Text ist ursprünglich auf Julian Marius Plutz‘ Blog neomarius erschienen.

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