We Don’t Need No Education

Dan Simons ist Lehrer in den englischen Midlands und wünscht sich, er wäre keiner. Ein Bericht über den Zustand des britischen Bildungssystems.

Es ist 14:20 Uhr an einem trüben Dezembernachmittag und Ryan, ein pummeliger Fünfzehnjähriger mit einem Sprachfehler, hat mir – einem fünfunddreißigjährigen Mann – gerade gesagt, dass ich mich „verpissen“ soll. Der oberflächliche Grund für diesen ziemlich unverschämten Ausbruch liegt darin, dass ich Ryan gebeten habe, seine Jacke auszuziehen. Der „wahre“ Grund ist, so wird man mich später belehren, dass Ryan „einen schlechten Tag hatte“. Darüber soll ich beim Vorbereiten der nächsten Stunde nachdenken und mir mit Blick auf Ryans seelsorgerischen Unterstützungsplan Strategien überlegen, wie ich den Jungen in der morgigen Stunde besser in den Lernprozess einbinden kann.

Jermaine, ein ganzes Jahr älter als Ryan, aber kleiner und bösartiger, wurde früher am Tag für eine Stunde des Unterrichts verwiesen, weil er eine meiner Kolleginnen „fette Scheißfotze“ genannt hat. Meine Kollegin wurde anschließend von der stellvertretenden Schulleiterin aufgesucht, die ihr mitteilte, dass Jermaines Ausbruch auf das Fehlen klarer Grenzen in ihrem Klassenzimmer zurückzuführen sei. Kurzum, es war ihre Schuld. Dieselbe Kollegin, eine Lehrerin mit etwa zwanzigjähriger Berufserfahrung, wurde von der gleichen Führungskraft aufgesucht und aufgefordert, ihre Jacke auszuziehen. Vor ihrer Klasse. Mitten in der Stunde.

Jermaine wurde für eine Stunde des Unterrichts verwiesen, weil er eine meiner Kolleginnen „fette Scheißfotze“ genannt hat.

Kinder zu unterrichten, wurde von manchen schon immer als 08/15-Beruf angesehen. Vor zehn Jahren hätte ich vielleicht dagegen argumentiert. Heute stimme ich zu. Viele Lehrer üben ihren Beruf aus, weil sie es woanders nicht schaffen würden. Für jene, die im Schulsystem gedeihen, trifft dies sicher zu. Ich habe während meiner Karriere einige sehr gesunde Menschen kennengelernt, Menschen, die ein vitales und faszinierendes Leben führen. „Außenseiter“, wie Michael Wilshaw, ehemaliger Chef der Aufsichtsbehörde des Erziehungsministeriums, sie einmal genannt hat. Es ist kein Zufall, dass kein einziger dieser interessanten Menschen heute noch Lehrer ist.

Der Beruf des Lehrers ist im Begriff, sich wie folgt zu stratifizieren:

Erstens gibt es die selbstbewusst-coolen, jungen Lehrer, die von Leidenschaften für rührselige Ephemera wie Klimagerechtigkeit und Gleichheit erfüllt sind. Solche Personen engagieren sich möglicherweise bei Teach First und werden aller Voraussicht nach nicht länger als drei Jahre Lehrer bleiben. Irgendwann geraten sie in eine ideologische Krise, weil sie erkannt haben, dass die Kinder, die sie aus Unwissenheit und Not retten wollten, kein Interesse daran haben, gerettet zu werden.

Und dann gibt es die trostlosen, faden „Twitter-Lehrer“, die ihre bedeutungslosen Referenzen stolz auf Social-Media-Plattformen in exakt folgendem Format zur Schau stellen: „Stellvertretender Leiter Berufliche Weiterbildung (Elternzeitvertretung) an der Mount Pleasant Community High School | Mentor für Lehren und Lernen (in Vorbereitung) | Seit 2016 Mitglied des „Zentrums zur Förderung sozialer Mobilität im Nordwesten“ | Kneipenquiz- und Tee-Enthusiast“ Als ob irgendetwas davon Bedeutung hätte und als ob es irgendjemanden außer einer ekelhaft inzestuösen Gruppe von Leuten, die den Hashtag #edutwitter verwenden, interessiert. In der Regel ist diese Schicht von Lehrern zwischen Ende 20 und Ende 30, und trotz ihrer Beteuerungen können und werden sie ihren Job nie aufgeben. Genauso wenig wie eine Schnecke in der Lage ist, außerhalb ihres Schneckenhauses zu leben.

Und dann gibt es die trostlosen, faden „Twitter-Lehrer“, die ihre bedeutungslosen Referenzen stolz auf Social-Media-Plattformen zur Schau stellen.

Drittens gibt es jene Lehrer, die in vergangenen Zeiten gefangen sind. Traurige Relikte einer noch jungen, aber unheimlichen Vergangenheit. Überbleibsel einer Welt, in der es nicht nur akzeptabel, sondern sogar erwünscht war, freitagmittags in den Pub zu gehen – und in der so etwas ganz bestimmt nicht als Sicherheitsvorfall und Grund für eine sofortige Disziplinarmaßnahme galt. Diese Leute sind in einen Beruf eingetreten, der durch die Channel-4-Kultkomödie „Teachers“ populär wurde. Seitdem mussten sie erleben, wie sich ihr Job in eine Stelle für evangelikale Sozialarbeiter mit dem Schwerpunkt „strenger und freudloser Humanismus“ verwandelt hat. Ihr Berufsbild verlangt, die Göttlichkeit eines Leitfadens wie „Sicherheit für Kinder in der Bildung“ und der Menschenrechtskonvention anzuerkennen – sonst nichts.

Diese Lehrer sind wie Mücken in Bernstein eingefroren. Alles an ihnen ist fehl am Platz: ihre Einstellung, ihre Ausbildung, ihre Methoden. Die Kinder lieben oder verabscheuen sie. Die Schulleitung verabscheut sie ohne Ausnahme. Einer meiner Kollegen, ein Geschichtslehrer, zählt nur noch die sieben Jahre herunter, die verbleiben, bis seine Hypothek abbezahlt ist. Er steht an der Spitze seiner Gehaltsliste und ist kompetent genug, um ein Kompetenzverfahren zu vermeiden, weshalb sein Berufsleben von Trägheit geprägt ist. Die Schulleitung betrachtet ihn mit einer Mischung aus völliger Verachtung und offensichtlichem Unverständnis, und er erkennt in ihr umgekehrt lediglich ein Hindernis, das es noch sieben weitere Jahre zu umschiffen gilt.

Ich mache den Kindern keine Vorwürfe. Sie können ein Lichtblick in einem ansonsten trostlosen Job sein. Genauso können sie aber auch kleine Scheißer sein, deren Mangel an elterlicher Interaktion oder dem Ziehen von Grenzen in ihrem Zuhause bedeutet, dass sie es in der Schule nicht einmal fertig bringen, simple Anweisungen zu befolgen. Viele von ihnen sind normale und unauffällige Kinder, die zu einem normalen, unauffälligen Leben in stiller Würde heranwachsen werden, da bin ich mir sicher. Doch bei einem großen Prozentsatz von ihnen, und leider lehrt mich meine eigene Erfahrung, dass dieser Prozentsatz jedes Jahr größer wird, handelt es sich um verwilderte und asoziale Bastarde, die keine Rücksicht auf die Würde von Mensch oder Tier nehmen und unfähig sind, sich grundlegendste Informationen zu erschließen. Ich wurde einmal gefragt, ob die Königin „die Königin von Birmingham oder die Königin der ganzen Welt“ sei. Ein anderes Kind fragte ernsthaft: „Warum hat man das ‚Zweiter Weltkrieg‘ genannt, wenn es keinen Ersten Weltkrieg gab?“ In der gleichen Unterrichtsstunde zeigte sich ein Mitschüler entsetzt, als er erfuhr, dass der Zweite Weltkrieg und alles, was sie seit der Grundschule in Geschichte gelernt hatten, wirklich passiert war.

Ich mache den Kindern keine Vorwürfe. Sie können ein Lichtblick in einem ansonsten trostlosen Job sein.

Es ist nicht immer ihre Schuld; sie leben in einer atomisierten Gesellschaft, in der jede Person, die ihre Besorgnis zum Ausdruck bringt, aber nicht zur unmittelbaren Familie gehört, verdächtigt wird, ein Nichtsnutz zu sein. Es gibt immer noch gute Eltern, Eltern, die ihre Kinder für ihr Verhalten zur Rechenschaft ziehen und ihnen Vorstellungen von Recht und Unrecht vermitteln. Doch leider werden auch diese Eltern von jenen überrannt, die versuchen, „Kumpel“ ihrer Kinder zu sein und sie an einem Donnerstagabend im Alter von fünfzehn Jahren mit in den Club nehmen und dann eine Lüge erfinden, um erklären zu können, warum sie am Freitagmorgen nicht in der Schule waren.

Eine Mutter von Zwillingsjungen an meiner Schule hält es für eine gute Methode, ihre Jungs zu erziehen, indem sie Kredite aufnimmt, um ihnen alles kaufen zu können, was sie sich wünschen. Dazu zählte unter anderem, an ihrem elften Geburtstag für 1.000 Pfund eine Limousine zu ordern, die sie von der Schule abholte und zu einem Logenplatz im Fußballstadion fuhr. Es scheint diese Mutter weniger zu beunruhigen, dass das Lesealter ihrer Zwillinge bei sechs Jahren liegt, sie also praktisch Analphabeten sind und außerdem kaum rechnen können. Noch weniger scheint es sie zu kümmern, dass die beiden vor ihrem sechzehnten Geburtstag öfter verhaftet wurden als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben.

Ich arbeite seit zehn Jahren im Bildungswesen und mittlerweile ist jeder Augenblick meines Lebens von der Frage bestimmt, wie ich meinem Job entrinnen kann. Ja, ich werde die Ferien vermissen. Ich werde manche Interaktion mit den Kindern vermissen und ich werde – weniger – Kollegen vermissen. Was ich nicht vermissen werde, ist die völlige Missachtung der intellektuellen Neugier, die das britische Bildungssystem fördert. Ich werde die „Britische Werte“-Sticker auf unseren Schlüsselbändern nicht vermissen, auf denen Schlagwörter wie „persönliche Freiheit“ und „Meinungsfreiheit“ stehen. Schon deshalb nicht, weil ich gebeten wurde, einen Schüler für drei Tage vom Rest der Klasse zu isolieren, weil er gesagt hatte: „Ich denke nicht, dass es normal ist, schwul zu sein“ – während er einen solchen Aufkleber trug. Ich werde es nicht vermissen, dreißig Schüler aufzufordern, einen Zeitungsartikel im „Stil von …“ zu schreiben, und dann dreißig Schüler zu erleben, die sagen, sie hätten noch nie eine Zeitung gesehen. Ich werde die lähmende Langeweile nicht vermissen, die aufkommt, wenn man versucht, Kinder zu unterrichten, die wissen, dass sie unabhängig von den Prüfungsergebnissen des Sommers garantiert einen Job bei ihrem Vater bekommen werden.

Mittlerweile ist jeder Augenblick meines Lebens von der Frage bestimmt, wie ich meinem Job entrinnen kann.

Ich schäme mich nicht, zu sagen, dass ich nicht weiß, was das alles für das britische Bildungssystem bedeutet. Ich habe keine Antworten, nur Bedenken. Ich fürchte, die Dinge sind schon zu weit fortgeschritten, als dass man sie noch sinnvoll korrigieren könnte. Lehrer waren schon immer „ein bisschen links“, aber die neue Generation ist kulturell so gelähmt, dass sie nicht mehr das kleinste Risiko eingeht. Ein kurzer Blick auf „edutwitter“ offenbart Diskussionen von Lehrern – lächelnde, parfümierte Menschen mit engen, ermüdenden Ansichten –, die den Lehrplan „entkolonialisieren“ möchten, indem sie aus ihm Grundpfeiler wie Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ streichen, weil darin das „N-Wort“ großzügig Verwendung findet und Curleys Frau als „Nutte“ bezeichnet wird. Da spielt es dann auch keine Rolle, dass Crooks, die schwarze Figur des Romans, und Curleys Frau die einzigen Personen in diesem Roman sind, die von Steinbeck mit Sympathie behandelt werden. Was zählt, ist, dass unanständige Wörter verwendet und veraltete Haltungen beschrieben wurden – und schließlich gibt es doch Bücher von Autoren mit exotischen Namen und ungewöhnlichen sexuellen Neigungen, die man stattdessen lehren kann. Ich treffe immer noch ehemalige Schüler, die inzwischen Mitte zwanzig sind und mir vorschwärmen, dass „Von Mäusen und Menschen“ das einzige Buch ist, das ihnen je gefallen hat. Für die meisten stellt es auch das letzte Buch dar, das sie je lesen werden.

Wie man so schön sagt: Wenn Amerika niest, erkältet sich das Vereinigte Königreich. Noch besitzen die US-amerikanischen Lehrer aus der durchgeknallten linken TikTok-Fraktion kein transatlantisches Gegenstück. Britische Lehrer sind in den sozialen Medien viel weniger offen politisch und befürworten viel seltener gigantische Reformpläne, aber wenn man an der Oberfläche kratzt, findet man sie.

Außerhalb des Klassenzimmers leidet die Verwaltung der Schulen unter einer klaustrophobischen Nachahmung des unternehmerischen Eifers, der in vielen anderen Bereichen des britischen öffentlichen Lebens verbreitet ist. Eltern gibt es nicht mehr, nur noch „wichtige Interessengruppen“. Schuldirektoren sind jetzt „Treuhänder“. Akademisierung und freie Schulen, einst die aufregende Seite des Modernisierungsschubs der Koalitionsregierung, haben zu einer absolut minimalen Modernisierung und noch weniger Aufregung geführt. Die Schulen in England und Wales können nun ihre Ferien selbst festlegen, ihren eigenen Lehrplan unterrichten und unqualifizierte Lehrer mit speziellem Hintergrund einstellen. Da sie im Allgemeinen von pseudointellektuellen Konformisten geleitet werden, haben nur sehr wenige Schulen auch bloß annähernd etwas Innovatives unternommen.

Eltern gibt es nicht mehr, nur noch „wichtige Interessengruppen“.

Im Bildungssystem findet sich heute bereits ein sanftes Faksimile der Anarcho-Tyrannei, die unsere Justiz durchdringt. Man kann das in vielerlei Hinsicht als Generalprobe betrachten. Die Konsequenzen für das schlimmste Verhalten von Schülern reichen von einer Stunde Isolation bis hin zum gefürchteten befristeten Ausschluss – was sich beängstigend anhört, aber in der Regel bloß bedeutet, dass der Schüler zwei Tage zu Hause bleibt und Xbox spielt, während alle anderen in der Schule sitzen. Da Schulen von OFSTED, der staatlichen Aufsichtsbehörde, für permanente Ausschlüsse gerügt werden, sind diese inzwischen ohnehin sehr selten. Stattdessen treffen sich die örtlichen Schulleiter einmal pro Halbjahr und besprechen „geordnete Versetzungen“, bei denen Taugenichtse und Widerspenstige anderen Schulen angeboten werden, wenn im Gegenzug einige ihrer Schüler aufgenommen werden. Das funktioniert selten und scheitert oft daran, dass das Problem nicht bei der vorherigen Schule oder den Lehrern liegt, sondern beim Kind selbst. Für viele meiner Kollegen ist das eine Überraschung. Vor zwei Jahren eröffnete unser damaliger Schulleiter eine Fortbildungsveranstaltung, indem er uns aufforderte, über eine Passage von Rousseau nachzudenken. Natürlich hatten die meisten Kollegen noch nie von Rousseau gehört.

Ryan war heute wieder im Unterricht. Ich bin aus unserer Abteilung die dritte Lehrkraft, in dessen Klasse er versetzt wurde, denn er hat offenbar ein Problem mit Frauen – und alle meine Kollegen sind Frauen. Mein Klassenzimmer stellt für Ryan also das Ende der Fahnenstange dar. Niemand hat sich die Frage gestellt, warum man ein Kind wie Ryan, das zweifellos einen erstklassigen Türsteher oder Gerüstbauer abgeben wird, mit englischer Literatur quält, obwohl er sich nie beteiligt, generell unangenehm auffällt und den wenigen, die sich für Bücher interessieren, den Spaß verdirbt. Bildungsromantiker werden darauf verweisen, dass man Ryans „kulturelles Kapital“ in der Hoffnung aufbaue, dass er eines Tages vor der National Gallery steht, aus eigenem Antrieb hineingeht und sich die Augen für die Welt der hohen Kunst öffnen lässt. In Wirklichkeit wird er wie jeder in seiner Nachbarschaft von Mittwoch bis Sonntag im Pub einen bechern und auf der Toilette zu leichte Päckchen Kokain verkaufen.

Ich würde nicht sagen, dass das britische Schulsystem einen Defekt hat, denn es tut genau das, was es tun soll: Es holt die Kinder sieben Stunden am Tag aus dem Haus, damit ihre Eltern Excel-Tabellen ausfüllen können.

Δ Dan Simons


Dan Simons‘ Artikel ist im englischen Original auf IM-1776 erschienen und wurde mit freundlicher Genehmigung für ALIAS ins Deutsche übertragen.

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