Heute: Jens Balzer + Cardi B = Liebe
Virtous und klug wie noch nie oder doch bloß ein bisschen geiler als YouPorn? Angeregt durch Zoe Strimpels ALIAS-Artikel „Schläge im Schlafzimmer“ haben wir uns nochmal Cardi Bs 2020er-Hit „WAP“ angehört – und Jens Balzer gelesen.
Mehr als 300 Millionen Aufrufe verzeichnet „WAP“ („Wet Ass Pussy“) allein auf YouTube. Über 600 Millionen Zugriffe zählen wir auf Spotify. Erste Erkenntnis: ein kapitaler Mega-Hit. Im Video zu „WAP“ geht es visuell um dreierlei – Ärsche, Muschis, Titten. Die gute alte Porno-Dreifaltigkeit, eindrucksvoll von der ehemaligen Stripperin Cardi B und ihrer Gast-Rapperin Megan Thee Stallion in Szene gesetzt. Gelernt ist gelernt.
ALIAS-Wertung: Eine echter Lapdance entzündet das Feuer unserer Lenden nachhaltiger, aber „WAP“ ist immer noch geiler als YouPorn.
Was sagen die anderen? Jens Balzer, Autor und Pop-Theoretiker, hält „WAP“ für „vollendete Emanzipation“. Wir stutzen, lesen aber weiter. Das Befreiende an „WAP“ ist für ihn, schreibt Balzer auf ZEIT ONLINE, zuallererst Cardi Bs Erkenntnis, dass das Sexuelle politisch sei. Der Pop-Theoretiker spricht von „weiblicher Autonomie“, „dominanten Positionen“ und „Sexualaufklärung“. Momentchen, denken wir uns, knöpfen die Hose wieder zu und hören erneut rein, festen Mutes, endlich auf den Text zu achten. Auch wenn es intellektuell wird.
„Fessel mich!“ hören wir Cardi B rappen. „Prügel drauf ein, Nigger … Spuck mir in meinen Mund … Park deinen LKW in meiner kleinen Garage … Ich will nicht spucken, ich will schlucken … Ich möchte daran würgen, ich möchte keine Luft mehr bekommen … Ich suche nach einer Tracht Prügel.“
„Noch nie“, lobt Balzer, sei ein politischer Inhalt wie dieser „so virtuos umgesetzt“ worden, ja, sapperlot, noch nie „mit solcher Klugheit“. Wir stutzen abermals, glauben aber an die Popkritik und vertiefen uns deshalb gleich auf ein Neues in die Lyrik von „WAP“. Sicher ist sicher.
„Ich brauche einen, der Henny (Hennessy-Cognac) trinkt, ich brauche einen der Weed (Marihuana) raucht“, rappt Cardi B. „Besonders groß und besonders hart … Wenn er Kohle hat, dann bin ich auf dem Weg zu ihm … Zahl meine Studiengebühren, nur um mich zu küssen! … Meine Muschi hat die Güteklasse 1A, genauso wie seine Kreditwürdigkeit … “
Wir fassen zusammen: Einen dicken und harten Schwengel soll der Macker haben. Er darf saufen und kiffen, muss aber finanziell seine Braut versorgen, die ihre Schulden dann per Bumsbereitschaft begleicht. Kommt uns seltsam bekannt vor, aber wir hören erstmal weiter.
Cardi Bs feministische Dichtung wird durch ein Vocal-Sample in Dauerschleife untermalt, das – hoppla – von einem Mann stammt. Der Kerl bietet dem Hörer in imponierender Bündigkeit eine Interpretation des Songs an: „There’s some hoes in this house“ („Hier sind ein paar Huren im Haus“). Eine Fährte, der wir wohlgemut nachspüren.
Kein Werk ohne Autor, streng wissenschaftlich öffnen wir deshalb Cardi Bs Wikipedia-Eintrag. Wir wollen mehr über das Leben der Künstlerin erfahren und vielleicht so Balzer verstehen. Endlich begreifen, was ihm prompt offen lag, sich uns aber noch immer schmerzlich entzieht.
Wir lesen: „Im März 2019 wurde ein Video publik, in welchem Cardi B zugab, während ihrer Zeit als Stripperin Männer in ein Hotelzimmer eingeladen, dort unter Drogen gesetzt und danach ausgeraubt zu haben.“ Unverhofft geht ein Geistesblitz auf uns nieder wie die vier Buchstaben der Cardi B ins Antlitz eines Weed-Rauchers ihrer Wahl. Der Erkenntnisgewinn ist endlich unser, obgleich es – zu unserem Bedauern – nicht jener Balzers ist.
Lange tigern wir noch durch die ALIAS-Redaktion und registrieren: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz – die fünf Phasen der Trauer nach Elisabeth Kübler-Ross. Am Ende steht eine schmerzliche Erkenntnis.
Wir wissen uns die Unterbelichtung des Popkritikers in dieser Sache nicht anders zu erklären und stellen deshalb fest: Jens Balzer liebt Cardi B.
Es sei ihm gegönnt. ALIAS wünscht dem jungen Glück alle Herzchen-GIFs der Welt.